Kultur, Sage & Schreibe Nr. 35

1938

Von Nadina Schärer

Kalte Abendluft peitscht mir entgegen. Vom Himmel fallen ein paar verirrte Schneeflocken. Die Strassen Berlins sind leer. Ich renne quer über den sonst so vollen Potsdamer Platz. Normalerweise versteht man hier unter dem Verkehrslärm und den schnatternden Menschen sein eigenes Wort nicht. Jetzt könnte man eine Stecknadel fallen hören. Geradezu unheimlich. Es liegt etwas in der Luft. Als hätten die Häuser und Bäume, an denen ich vorbeiziehe, auch dieses flaue Gefühl einer dunklen Vorahnung. Mein Gefühl beruht allerdings nicht auf Vermutungen, sondern auf einer bitteren Erkenntnis. Ich kann ihn nicht retten. Wie auch? Mein Bruder hat es mir vorhin selbst gesagt: «Du immer mit deinem Janosch! Aber warte nur, dieses Mal wird er nicht so einfach davonkommen! Es ist eine Schande, dass du dich überhaupt mit einem Drecksjuden wie ihm abgibst!» Bei diesem Wort ist es mir kalt den Rücken hinuntergelaufen. Aber habe ich etwas gesagt? Natürlich nicht. «Eine Deutsche sollte sich nicht so beschmutzen! Aber keine Sorge, nach heute Abend wird er kein Problem mehr für uns sein!» «Was soll das heissen, Michi?», fragte ich erschrocken über seine hasserfüllten Worte, «du willst ihm doch nicht etwas antun, oder?» Sein breiter werdendes Grinsen bereitete mir grosses Unbehagen. «Sagen wir, er wird bekommen, was ihm zusteht. Er, sein Gesindel und jeder, der sich uns in den Weg stellt.» Mit diesen kryptischen Worten verliess er das Zimmer und mich mit einem sehr schlechten Gefühl im Magen.
Um 19:30 Uhr soll es losgehen. Das weiss ich von Mama. «Michi hat etwas von einer Säuberung geredet», sagte sie und lachte. Mein Bauch sagte mir, dass er nicht mit seinen Kollegen die Gehsteige von Müll befreien möchte. Mir wird schlecht. Mein Blick ist verschwommen. Nicht nur von den Tränen, die mir heiss die Wange runterlaufen. Geräusche dringen wie durch Watte zu meinen Ohren. Meine Beine, die mich seit fast einer halben Stunde durch die Stadt tragen, schmerzen schrecklich. Aber das ist mir egal. Ich habe fast keine Zeit mehr. Von Michis Hassrede bis zur Vollstreckung seines Plans sind von den ursprünglichen 45 Minuten keine 15 mehr übrig. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder höre ich einzelne Fetzen dieses Gesprächs. Die Stimme meines Bruders hallt wie ein Echo in meinem Kopf. Fast keine Zeit mehr. Wieso habe ich nichts gesagt? Wieso konnte ich mich nicht bewegen? Wieso bin ich einfach dagestanden und habe ihn auf mich einreden lassen? Und wieso habe ich Janosch nicht verteidigt …?
Endlich verlangsamen sich meine Schritte. Ein paar Häuser weiter liegt der Laden von Janoschs Eltern. «JIDDISCHE FEINKOST» steht in Grossbuchstaben über der Tür. Eine dicke Farbschicht. Das Wort «JIDDISCH» scheint besonders oft übermalt geworden zu sein.
Ich hole tief Luft. Beruhige dich! Nur keine vorschnelle Entscheidung treffen. Werde ich gerade beobachtet? Wahrscheinlich. Die Vordertür ist also keine gute Idee. Um diese Uhrzeit ist sie sowieso abgeschlossen. Die Hintertür könnte aber noch offen sein. Ich muss es versuchen!
Janoschs Vater hat vor einer knappen halben Stunde den Laden dichtgemacht. In der Küche brennt aber noch Licht. Als ich vorsichtig die Hintertüre öffne, höre ich etwas. Aus der Vorratskammer kommen gedämpfte Geräusche. «Janosch?», rufe ich. Meine Stimme ist bedrückt und zittrig. Ein Rumpeln, ein dumpfer Knall und ein lautes: «Au!», gefolgt von wildem Gefluche. Das ist nicht Janosch. Herr Goldberg kommt, sich den Hinterkopf mit der linken Hand reibend und einem Gurkenglas in der rechten, aus dem kleinen Raum. «Marie?», fragt er verdutzt, lässt den erhobenen Arm sinken und lacht. «Was machst du denn hier? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!» Mir bleibt das Lachen im Halse stecken. «Es ist … es wird etwas passieren, Herr Goldberg. Etwas Schlimmes! Sie müssen sofort hier weg! Sie werden kommen, nein, sie sind schon da!» Herr Goldberg sieht mich nun besorgt an: «Ganz langsam, Marie, wovon sprichst du? Wer kommt?» «Nein, jetzt! Wo ist Janosch? Wir haben keine Zeit! Um halb acht geht es los!», meine Stimme bricht fast. Wieder schaue ich auf die Uhr. Es ist eine Minute vor halb acht. Helle Panik steigt in mir auf. Verdammt, verdammt, verdammt! Ich habe wieder nichts erreicht! Gleich wird es geschehen und ich kann es nicht aufhalten. «Marie», Herrn Goldbergs Stimme ist jetzt ernst, «sprichst du von den Nazis? Haben sie etwas geplant? Weiss dein Bruder etwas?» Doch ich antworte ihm nicht. Es ist Punkt 19:30 Uhr.
Ich bereite mich vor. Auf Lärm, Tumult, Gewalt. Doch nichts geschieht. Eine lange, peinigende Minute vergeht. Wir beide halten den Atem an, doch es herrscht weiterhin absolute Stille. «Hör mal», sagt Herr Goldberg langsam mit zittriger Stimme, «wenn das ein schlechter Scherz sein soll, dann ist das wirklich unpassend, Marie! Du weisst doch, was wir durch sie alles erdulden mussten!» Hoffnung steigt in mir auf. Vielleicht war das alles nur ein grausamer, geschmackloser Scherz seitens meines Bruders. Vielleicht wird alles gut. Vielleicht… «BOOM.» Glas zerbricht. Holz splittert. Regale fallen in sich zusammen. Das ganze Haus vibriert. Herr Goldberg stürzt aus der Küche in den Laden. Ich folge ihm bis zur Tür. Das Schaufenster und die komplette vordere Hälfte des Ladens sind vollkommen zerstört. Leberpastete vermischt sich mit Hummus auf dem Parkett zu einem dunklen Brei. Absolutes Chaos. Rufe von draussen. Wie in Trance sehe ich Männer in Uniformen den Laden stürmen. Mit Knüppeln schlagen sie Einmachgläser, Flaschen und Kisten kaputt. Mit ihren Stiefeln treten und zerstören sie all das, wofür sich Janoschs Eltern jahrelang mühselig abgearbeitet haben. Eine ganze Existenz mit einem Mal weg. Ich will sie anschreien, aufhalten. O diese Ungerechtigkeit. Ich kann mich nicht bewegen. Schon wieder. In Schock stehe ich da. Aus dem Augenwinkel sehe ich Herrn Goldberg. Bestürzung und Verlust stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Einer der Männer geht auf ihn zu. Er zieht seinen Knüppel. Er will ihn schlagen. Nein! «Nein!» Unkontrolliert kommt es aus meinem Mund. Gleissend heisse Wut erlöst mich aus meiner Starre. Ich stürze mich auf den Kerl, will ihm das Gesicht zerkratzen, ihn für seine Gräueltaten bezahlen lassen. Wir beide fallen auf den Boden. Aus dieser Distanz sehe ich sein Gesicht. Ich starre ihn an. Mein Bruder starrt zurück. Die Verblüfftheit in seinem Blick wird kurz darauf von Traurigkeit abgelöst. Er wird wohl sein Wort halten müssen.
Alles schwarz. Au, mein Kopf! Was ist mit mir?
«Marie?»
Wer ist das? Ich kenne diese Stimme. Wieso klingt sie so traurig?
«Marie, wach auf.»
Ich öffne meine Augen. Über mir ist ein Gesicht. Janoschs Gesicht. Endlich! Ich grinse verklärt. Er lächelt auch, doch seine Augen lächeln nicht mit. Eine einzelne Träne rollt seine rechte Wange runter. Ich verstehe nicht. Ich bin so müde. Ich kann nichts dagegen tun. Langsam schliessen sich meine Augen. Alles wird wieder dunkel. Das Letzte, was ich vernehme, ist das Rattern eines Zuges.