Kultur, Sage & Schreibe Nr. 35

46 Minuten

Von Florian Brenner, G19K

Diese Idylle ist völlig absurd, wenn sich solch eine Situation als idyllisch beschreiben lässt. Es mag absurd wirken, wie man in solch einer Situation noch so etwas wie Harmonie und Einklang verspüren kann. Doch die Blase ist geplatzt. Ich bin wieder ich und nicht der, der ich einmal war.

Es sind Serpentinen, welche die karge Küstenlandschaft zieren. Sie führen hinaus ins Nichts, in die abgeschiedenen Provinzen des Landes. In einem Reiseführer würde diese Ecke Schottlands als authentisch angepriesen werden. Mehr als winzige Fischerdörfchen mit einer überalterten Bevökerung, in dessen Häfen ein mieser Geruch von Rost, Salz und Fisch in der Luft liegt, hat diese überkommene Gegend jedoch nicht zu bieten. Dieser beissenden Meeresluft ist hier nur schwer zu entkommen, denn der Wind trägt sie noch weit ins Landesinnere. Die Häfen zählen meist exakt so viele Schiffe wie das Dorf Einwohner, wovon beide am Zahn der Zeit nagen.
Das Einzige, was solchen heruntergekommenen Dörfchen etwas Leben verleiht, sind die zahlreichen Pubs. Jedes noch so kleine Provinznest hat sein eigenes «Inn», wie sie in diesen Orten genannt werden. Diese Gaststuben sind die Pulsandern dieser trostlosen Gegend. Hier trifft sich Hinz und Kunz und jeder kennt sich. Ob man sich mag, ist eine andere Frage, doch man kommt miteinander aus und freut sich über die Anwesenheit der anderen, um nicht komplett zu vereinsamen. Genau in solch einem Pub bin auch ich heute anzutreffen, wie so oft. So mancher hat hier schon zu tief ins Glas geschaut und auch ich muss mich schamlos zu denen bekennen.

«46 Minuten bis zum Zielort», erklingt es aus dem Navigationsgerät, welches ich mit Klebeband an die Frontscheibe gepflastert hatte. Von Gebrauch war das Navigationsgerät eigentlich noch nie. Den Weg nach Hause kenne ich in- und auswendig und sich in dieser Gegend zu verirren, ist nun wahrlich ein Kunststück. Doch trennen konnte ich mich auch noch nicht von ihm. Es ist wie ein zuverlässiger Freund. Ein Freund welcher mich auf meinen Reisen, auch wenn es nur der Weg zur Arbeit ist, begleitet. Dem Menschen gegenüber hat das Navigationsgerät jedoch einen grossen Vorteil… bei Bedarf kann es ausgeschalten werden. Doch heute ist mir die eingesprochene Stimme willkommen, gar einsam fühle ich mich.
Der Motor heult doppelt auf, als ich ihn anlaufen lasse. Es ist wahrlich nicht der jüngste Wagen, doch es ist mein stolzer Besitz seit so manchen Jahren. Erworben habe ich ihn in meinen jungen Jahren und seither begleitet er mich auf Lebzeiten. Eine Reminiszenz an meine Jugendjahre.

Ich lasse den Motor erneut aufheulen und lenke den Wagen auf die von den Scheinwerfern erleuchtete Strasse. Ich bin bestimmt drei Bier über der Promille-Grenze und die Müdigkeit steht mir ins Gesicht geschrieben, doch irgendwie muss ich noch nach Hause kommen. Die Beschleunigung drückt mich in den Sitz, denn Power hat das Baby noch immer. Ich erinnere mich an die Sammlung an Klassikern, welche im Handschuhfach verstaut sind und sich schon Autofahrt für Autofahrt bewährt haben. Wahllos wühle ich in der Box herum und schmeisse eine der Scheiben ein. «80’s Rock Anthems» und direkt bin ich in der Zeit zurückversetzt. Die Erinnerungen ziehen mich in ihren Bann und alles Erlebte fühlt sich wieder so nahe an, so real, so greifbar.

« In the midnight hour she cried more, more, more.
With a rebel yell she cried more, more, more.
In the midnight hour babe, more, more, more.
With a rebel yell more, more, more. »

…schrie Billy Idol aus den Lautsprechern. Und ich gab ihr mehr! Liess die Drehzahl hochschnellen, liess den Fuss nicht vom Gaspedal, liess mich in das Leder pressen bis der Sternenhimmel nur noch glühende Linien am Himmel war und die dunklen Silhouetten der Bäume wie im Zeitraffer an mir vorbeirasten.

«46 Minuten bis zum Zielort», hatte es geheissen. Und nun liege ich schon seit geraumen 46 Minuten in diesem Schottergraben. Würde ein renommierter Photograph diese Szenerie festhalten, wäre sie einer Doppelseite in einem Magazin würdig. Das helle Mondlicht erleuchtet wie ein Scheinwerfer den Schauplatz dieser Tragödie. Dramaturgisch liegt der blutende Hirsch auf der Fahrbahn. Ein so majestätisches Tier, so galant und doch so machtlos gegenüber den Pferdestärken, welche unter der Fahrzeughaube meines Mustangs schlummern. Doch um die Karre steht es auch nicht besser. Nur noch zu erahnen ist, um welch edles Fahrzeug es sich mal gehandelt hat. Seitlich liegt das, was einst ein Prunkstück war, im Graben. Die Schnauze zog eine Furche durch die Erde um kam dann zum Stillstand.

Es dauert bis sich der Nebel aus meinem Kopf verzieht und ich wieder klar denken kann. Ich benötige einige Momente, um zu begreifen, dass dies gerade mir passiert ist, dass alles um mich real ist.
Und so sitze ich nun in einem demolierten Wagen, um mich Totenstille, nur gebrochen durch das alarmierende Piepsen eines Sicherheitsmechanismus und das schwere Atmen eines sterbenden Wildtieres. Wind zieht durch die zersplitterten Fenster und lässt mich am ganzen Körper frösteln.
Man könnte nun meinen, ich stünde unter Schock, doch von jeglicher Panik und Verzweiflung ist hier Fehlanzeige.
Ich sitze verkrümmt und verdrückt im deformierten Mustang, die Airbags im Gesicht und bin die Ruhe selbst. Ich sitze hier und um mich ist alles so idyllisch, ist alles so friedlich, ist alles im Einklang. Es ist als hätte mich dieser Vorfall aus der verschwommenen Pseudorealität, aus einer Gedankenblase, wieder ins Hier und Jetzt katapultiert. Ich war so beschäftigt mit dem, was mal war und vergass dabei, dass ich noch existiere.
Den materiellen Schaden am Mustang liesse sich ersetzen. Doch nicht zu ersetzen ist das Leben, welches ich so fahrlässig in Kauf genommen habe. Ich habe nicht alle meine Jugendjahre so impulsiv und exzessiv gelebt, um nun so früh von der Welt zu scheiden.
Es soll mir ein Mahnmal sein, ein Mahnmal an die Endlichkeit des Lebens. Und ein Mahnmal daran, nicht nur von Erinnerungen zu zehren, sondern mein Leben in der Gegenwart wieder lieben zu lernen, wieder neue Erinnerungen zu schaffen.
Die Blase ist geplatzt. Ich bin wieder ich und nicht der, der ich einmal war.

Schreibwettbewerb 2022
2. Platz in der Kategorie 2./3. Klassen