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Die Büchse

Es ist vorbei. Alles ist vorbei. Er hatte sich von der Apotheke hergemüht und saß nun auf dem Boden der Abstellkammer, in der er sich als kleiner Junge schon versteckt hatte, wenn die Welt ihm zu nahe gerückt war. Er legte die Tablettenschachtel neben einen grossen Koffer, der verriet, dass seine Eltern früher gemeinsam Ferien verbracht haben mochten. Über einer alten Blechdose tanzten Staubkörner im Licht, das durch das Dachfenster flutete. Noch immer zögerte er, die Büchse zu öffnen. Die Überwindung, die es ihn kostete, liess sich in verstrichenen Minuten messen.
Als er den Deckel endlich doch abhob, sah er die weisse Feder, welche er von seiner Geografielehrerin bekommen hatte. Frau Stoll und Celine waren die einzigen, mit denen er sich in seiner Kindheit und Jugend ernsthaft hatte unterhalten können. Besonders als seine Familie nicht mehr nur arm, sondern auch zerstritten war. Weder seine Mutter noch sein Vater hatten nach dem großen Familienstreit Zeit für ihn, aber im Gegensatz zu vielen anderen konnte er sich nicht mit materiellen Gütern ablenken. Er würde nie vergessen, als Frau Stoll eines nachmittags zu ihm kam und ihn anlächelte: Die habe ich am Wochenende gefunden. Sie könnte die erste für deine eigenen Flügel werden. Danach hatte er sich die Feder immer wieder angesehen und davon geträumt, sein eigenes Leben aufzubauen. Er wollte mit Jobben verschiedene Länder bereisen und danach ein Studium beginnen. Er atmete tief durch und sein Blick hob sich kurz, nur um sich dann wieder zu senken.
Als sein Blick wieder zur Dose wanderte, entdeckte er ein kleines Marmeladenglas, welches er mit Sand verschiedener Strände befüllt hatte. Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, war er viel herumgereist, um auf andere Gedanken zu kommen. Er hatte in dieser Zeit viel über sich, aber auch über das Leben gelernt. Es war eine gute Zeit gewesen. Es war das erste Mal gewesen, dass er sich rundum glücklich gefühlt hatte.
Die Schattenseite davon war, dass er Celine, seine beste Freundin, verloren hatte. Sie hat ihm viel bedeutet, die beiden konnten über alles gemeinsam reden. Celine war immer für ihn da und er war immer für sie da, aber als er mit dem Reisen begann, verloren sie sich aus den Augen. Er wollte seine Freiheit und ging einfach. Sie zog nach England.
Sein träger Blick wanderte zu einer eingetrockneten, weißen Rose. Diese Rose hatte er Mila aus ihrem Strauß gezupft, bevor sie ihn in die Hochzeitsgesellschaft geworfen hatte. Sie hatte es nie bemerkt, aber diese Rose bedeutete ihm unheimlich viel. Genauso wie Mila ihm unheimlich viel bedeutete. Er hatte Mila während seines Studiums immer im Auge gehabt und als sie dann beide in der gleichen Bank zu arbeiten begannen, kamen sie endlich zusammen. Sie ist die Liebe seines Lebens. Nein, sie war die Liebe seines Lebens. Sie hatte ihn verlassen und war der Grund, warum er hier sass.
Allein, das war nicht alles. Da war der blaue Schnuller, der in der Dose lag. Langsam hob er ihn hoch und drehte ihn in seinen Fingern. Die Bewegung war langsam und bebend. Er gehörte Nick, seinem Sohn. Noch immer überkam ihn ein Schauer, wenn er nur an seinen Namen dachte. Nick war das Beste. Er war ein aufgeweckter Junge. Doch alle Träume musste er an jenem Abend, als die Polizei zu ihm nach Hause kam und ihn von dem Unfall berichtete, aufgeben. Nicks Leben hatte geendet, bevor es wirklich angefangen hatte, er hatte nie ein Mädchen geküsst, nie einen Beruf erlernt und nie ein Kind aufwachsen gesehen. Nick wurde nur acht.
In diesem Moment hätten sie sich gegenseitig Zuflucht werden können, aber Mila war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie konnte damit nicht umgehen. Sie konnte es nicht ertragen, mit ihm zusammen zu sein und dabei zu sehen, wie nicht nur ihre, sondern auch seine Welt zerstört war. Sie musste Abstand gewinnen, sie wollte neu anfangen. Sie wollte nicht immer an all das erinnert werden. Sein Plan wäre es gewesen, zusammenzuhalten und das Ganze gemeinsam durchzustehen, aber das konnte sie nicht. Sie hatten sich gestritten, immer und immer wieder, bis sie beschlossen hatte, für immer zu gehen. Sie hatte einen Neustart verdient, wenn sie es so wollte. Aber er liebte sie immer noch. Und sie liebte ihn vielleicht auch immer noch.
Nun waren all seine guten Erinnerungen geborgen, doch nur, um sich augenblicklich in etwas Schlechtes zu verwandeln. Er spürte, wie seine Wangen heiß anliefen und eine Träne sein Gesicht durchquerte. Dann wurden es immer mehr und er schluchzte. Er weinte, er weinte alle Tränen, die er für Nick nicht geweint hatte, alle Tränen, die er während seiner Kindheit nicht vergossen hatte. Er war ein Mann. Bis jetzt hatte er den Drang zu weinen unterdrückt. Er sollte immer stark sein, aber jetzt konnte er nicht stark sein, wozu auch. Seine Bewegungen hörten ganz auf.
Erst ein letzter Gegenstand, ganz unten in der Dose, löste seine bleierne Erstarrung: ein Bild von Celine und ihm. Der Anblick des Bildes erinnerte ihn an die Büchse der Pandora. Er hatte alle Dinge, die ihn belasteten, freigelassen. Alles, was noch blieb, war die Hoffnung, verkörpert in Celine.
So saß er da, die letzte Hoffnung vor Augen. Andererseits müsste er seine Hand nur ausstrecken und er hätte die Tabletten in sich. Konnte er aufgeben, um auf diese Weise Frieden zu finden? War es fair, sich gegen den Flieger nach London zu entscheiden? Sein Blick blieb am Bild auf dem Boden der Büchse hängen.

Von Johanna Amann, G2C