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Gedankenbruch

«Lasst mich! Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?» Eine keifende Stimme über-tönte trotz des Lärms, der mittags immer in der Mensa herrschte, alle Gespräche, und als die Besitzerin der Stimme aufstand, waren alle Augen auf sie gerichtet. Ich fand es faszinierend, wie schnell etwa zweihundert Schüler ihre Gespräche einstel-len und eine Aufmerksamkeit zu Tage fördern konnten, wie es wohl nur selten in einer Unterrichtsstunde geschah. «Ihr versteht es nicht, ihr versteht es nicht, und so etwas schimpft sich meine Freunde! Ich werde das verdammte Zeug nicht mehr nehmen, ich kann nicht mehr atmen, es erstickt mich, seid still, seid still!» Die Worte wiederholend stand sie da, die Hände auf ihre Ohren gepresst, bis nicht nur ihre ‹Freunde›, sondern wirklich jedes Lebewesen im Raum schwieg und sie an-starrte. Ihre Miene war verschreckt, angespannt, ihre Augen zuckten hin und her, als ob sie nach einem Fluchtweg aus diesem Hexenkessel von Menschen suchte. Immer mehr schienen ihre Instinkte sie zu beherrschen; dann, auf einmal, verän-derte sich ihr Ausdruck und etwas anderes, mindestens genauso Unkontrolliertes, nahm den Platz der Panik ein.

Wenn ich sie so ansah, war es, als würde ich mein eigenes Spiegelbild betrachten, irgendwie fremd, zugleich bekannt und auf eine seltsame Art ungreifbar. Sicher war, ich kannte sie, sie war mir so vertraut wie meine eigenen Gedanken, doch jetzt fühlte ich mich eigenartig distanziert von ihr und mit jedem Augenblick ver-stärkte sich dieses Gefühl.

Sie richtete sich auf, blickte in die Masse. «Ihr!», wie eine Anklage hallte das Wort durch den Raum. «Seht euch an. Monster seid ihr, Fratzen, Ketten um euch.» Ihr Blick schweifte über die Menge, doch ich war mir sicher, dass sie keines der Ge-sichter erkannte, sie sah nur die Augen, all die Augen, die auf sie gerichtet waren. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich, als wäre es ich, die da vorne stand.

«Monster, Schatten, alles streckt seine Klauen nach mir aus. Ich bin es so leid, das nicht zuzulassen. Seid still, seid still, hört ihr es flüstern?» Niemand im Raum gab auch nur einen Mucks von sich. Erst als sie begann, auf den Tisch zu klettern, rührten sich ihre Begleiter, wollten sie festhalten und redeten auf sie ein, doch als das Mädchen um sich trat, wichen sie zurück. Nur eine ihrer Freundinnen ver-suchte, ihre Hand zu ergreifen. «Livia, beruhig dich!» Sie sprach mir aus der Seele, ich wollte ebenfalls nach vorne laufen, Livia packen und sie irgendwie unter Kon-trolle bringen, sie sollte runter von diesem Tisch, sollte sich nicht so gehen lassen vor all den Leuten.

Auch ein Lehrer näherte sich der Szene, Livia bückte sich, hob etwas vom Tisch auf und auf einmal war da ein Messer in ihrer Hand, mit dem sie wild herumfuch-telte. «Fasst mich nicht an!» In ihren Augen lag ein Ausdruck, der einen an eine Wahnsinnige denken liess, und jetzt wichen auch die letzten in ihrer Reichweite zurück. «Was ist los?», hörte ich den Lehrer fragen. Ihre Freundin zuckte mit den

Schultern. «Sie hatte schon früher solche… Momente, aber noch nie in diesem Ausmass, und wenn sie ihre Medikamente nimmt, ist sie eigentlich stabil.» Ein weiteres Mädchen trat hinzu. «Sie hat sie abgesetzt. Ich habe vorhin noch ver-sucht, ihr zu erklären, dass sie sie wieder nehmen muss, aber dann ist sie ganz ausgeflippt und…» «Weg mit dem Gift, das mich zusammenhält», überklang Livias Stimme das leise Gespräch. «Alle wollen mir helfen, glauben zu wissen, was ich will, was das Beste ist. Ich muss funktionieren, normal sein, das wollt ihr doch, normal!» Wie aus dem Nichts begann sie zu lachen. Es war ein irres Lachen, laut und krächzend, und so verstand ich nur noch einzelne Wörter von dem Gespräch neben mir. «Psychisch labil» drang zu mir herüber, «Wahnvorstellungen», «Über-forderung» und «Psychiater».

Livias Lachen wurde zu einem Schluchzen. «Ich will nicht normal sein!» Sie ver-stummte, blickte auf die Menschen hinab. Ihre Augen glitzerten fiebrig, sie liess das Messer fallen und das Scheppern zerriss für einen kurzen Moment die ange-spannte Stille. Dann breitete sie die Arme aus, wie eine Schauspielerin auf einer Bühne. «Sein oder nicht sein, aber die Frage ist doch, wie soll es sein. Alles soll gut sein, ein strahlender Sommertag, doch gerade dann ziehen Wolken auf, die Luft ist geladen, Spannung, lösen muss sie sich, freisetzen.» Ihre Stimme wurde immer lauter. «Ein Sturm zieht auf, hört ihr es Donnern, spürt ihr die Spannung? Es zerreisst mich, ihr redet von Vernunft, Verstand, ich ersticke an meinem Ver-stand! Er ist eine Fessel und ich reisse sie weg, ein Blitzschlag, alles entlädt sich, entfesselt, frei. Blitz und Donner, Farben, ein Sturm aus Gefühlen, Regen und Ha-gel, Gewitter in meinem Kopf! Und ich lass es frei, scheiss auf Vernunft, scheiss auf Verstand, ihr wisst nicht, wie schön es ist im Auge des Sturms, Wahnsinn, komm und hole mich, nimm mich in deine Arme, erlöse mich von der Vernunft, erlöse mich, erlöse mich!» Sie schrie die Worte hinaus, die Augen weit aufgerissen und das Gesicht so verzerrt, dass es kaum noch dem eines Menschen ähnelte, und gleichzeitig war es so menschlich, dass es mich bis ins Mark erschütterte.

Schliesslich wurde sie leiser, ihre Haltung fiel in sich zusammen, sie schluchzte auf und ihre eben noch so laute Stimme klang auf einmal schwach und zerbrechlich. «Es gibt keine Erlösung auf dieser Welt. Es gibt keine Erlösung auf dieser Welt.» Immer weiter wiederholte ich diese Worte, sie füllten meinen Verstand, vibrierten in meinem gesamten Körper. Der Lärm in meinem Kopf war verstummt und langsam drang die reale Welt wieder zu mir durch. Ich stand auf einem Tisch, um mich herum eine Menschenmasse und alle starrten sie zu mir hoch, Schüler und Lehrer, und alle wirkten geschockt und ver-stört und ich fragte mich, ob sie ebenfalls das gesehen hatten, was ich gesehen hatte. Das Mädchen, ich, was habe ich… «Livia!» Johanna tat einen Schritt auf mich zu. Ich glaube, sie hatte schon vorher versucht mit mir zu reden. «Livia, beruhig dich! Konzentrier dich! Du musst dich zusammenreissen!» Der andere Teil von mir wollte sich wieder gehen lassen, wollte mich aussperren und diesen Wahn-sinn, diese unglaubliche Freiheit wieder spüren, doch ich musste dagegenhalten, ich musste ich bleiben, die Kontrolle behalten. Die Welt rückte wieder komplett ein, mein Körper umschloss mich vollends, und der Druck war wieder da, der
Druck, gegen den ich kämpfen musste, den ich erhalten musste, der Druck, der mir den Atem nahm.


[Bild: Andreas Neeser]

Von Priska Steinebrunner, G2E