Zur Pensionierung von Roland Latscha
Geht einer wie Roland Latscha nach siebenunddreissig Jahren als Deutsch- und Philosophielehrer in den Ruhestand, ist man versucht, auf die Lücke hinzuweisen, die so einer hinterlässt. Dass es sich dabei um eine grosse Lücke handelt, versteht sich von selbst, nicht zuletzt in Anbetracht der ungewöhnlich langen Dienstzeit. Und tatsächlich ist der Satz «Roland Latscha hinterlässt an der Alten Kanti eine grosse Lücke» ein überaus schöner Satz. Möglicherweise würde sich der solchermassen Geehrte im ersten Moment über den Satz freuen, wie wohl die meisten anderen in seiner Situation. Ja, hier handelt es sich um eine bemerkenswerte Hinterlassenschaft, das glauben wir auf Anhieb zu verstehen. Und wenn wir nachdenken? Dann zucken wir zusammen, denn wir begreifen, dass der Satz nicht geeignet ist, jemandes Verdienste zu würdigen. Ganz im Gegenteil. Bleibt von einem nach so langer Zeit nicht mehr als eine Lücke, ist das zugegebenermassen wenig. Genau besehen: nichts.
Die Lücke ist nichts als Abwesenheit. Selbst wenn man einwendet, auch das Abwesende sei doch etwas, so etwas wie negative Anwesenheit vielleicht, selbst dann bleibt vom siebenundreissigjährigen Wirken Roland Latschas nichts, woran man sich mit Respekt, in Freundschaft, vielleicht sogar in Dankbarkeit erinnern könnte. Das Abwesende mag geheimnisvoller sein als das, was da ist – und Roland Latscha vermöchte diesem Gedanken vielleicht durchaus etwas abzugewinnen –, doch das Geheimnis verhilft dem Abwesenden nicht zur Anwesenheit. Wir sehen also ein, so ist der Lücke nicht beizukommen, nicht im gewünschten Sinn, jedenfalls.
[Bild: Annina Roth]
Hier dürfen wir uns freilich zunutze machen, was die Lücke über ihren fehlenden Inhalt hinaus auszeichnet: dass nämlich Lücken nur deshalb Lücken sind, weil sie begrenzt sind. Es leuchtet unmittelbar ein, dass erst ihre Ränder eine Lücke zu dem machen, was sie (nicht) ist. Die Ränder lassen uns die Lücke vom Gegenteil her denken. Und was oder wer wären die Ränder, wenn nicht wir? Wir, die wir noch da sind. Ohne uns wäre die Lücke nicht nur nichts – es gäbe sie gar nicht. Einzig von uns aus lässt sich die Dimension des Abwesenden wenigstens im Ansatz erahnen. Wenn wir im Lehrerzimmer sitzen, die Tür geht auf, aber keiner kommt, der Hegel oder Heidegger erklärt, keiner, der mit Kafka lacht, keiner, der mit Rilke und allen Augen das Offene sucht. Wenn wir vom Spezialschulwochen reden und keiner erzählt von den Fledermäusen im Schlafzimmer, keiner vom Geist unterm Dach, keiner vom Herd, der zu wenig Strom hat, weil im Zimmer nebenan noch Licht brennt. – Oder die Schüler, Randpunkte auch sie. Die, die da waren, im Zimmer 37, und den liebenswürdigen Grantler vermissen, weil sie wissen, so viel Gewicht ist nicht zu ersetzen. Die, die mit ihm auf Reisen waren oder in einer Themenwoche an der Schule. – Oder die Bildungspolitiker. Die, die ihn geschätzt haben als brillanten (Quer-)Denker. Die, die ihn gefürchtet haben als kritischen Geist; auch die.
Von den Randpunkten her Fäden spinnen, erzählend, erinnernd. Wort für Wort, Gedanke für Gedanke ausloten, was nicht mehr da ist. Das ist die Aufgabe derer, die geblieben sind. Auf dass ein Gewebe entstehe, nach und nach, das den Blick offen lässt auf das Geheimnis des Abwesenden. Auf das Geheimnis Roland Latscha.
Von Andreas Neeser, Redaktionsleitung sage&schreibe und Deutschlehrer