Sämtliche Studien, die sich in jüngster Zeit mit dem Phänomen Stress beschäftigt haben, kommen zum Schluss, dass immer mehr Menschen darunter leiden und Stress in seinen vielfältigen Ausprägungen ein wachsendes gesellschaftliches Problem darstellt. Was aber geschieht eigentlich mit uns, wenn wir gestresst sind? Wir haben nachgefragt bei Prof. Dr. med. Krassen Nedeltchev, Chefarzt für Neurologie am Kantonsspital Aarau.
Von Alexandra Ellena und Mila Schwyter, G21K
Sage&schreibe: Was passiert im Körper, wenn wir gestresst sind?
Prof. Dr. med. Krassen Nedeltchev: Bei Stress wird das Stresshormon Kortisol ins Blut ausgeschüttet. Der Blutzucker, der Blutdruck und die Herzschlagrate erhöhen sich. Auch wird das Blut in unserem Körper sozusagen umverteilt: Mehr Blut wird an jene Systeme geliefert, die wichtig sind, um einer Gefahr zu entfliehen, beispielsweise an die Beinmuskulatur. Dann gibt es eine Entscheidung zwischen fight, flight und sich totstellen. Diese Reaktion verläuft bei allen Menschen gleich.
Was passiert bei Stress im Gehirn?
Der Stress ist an sich eine gesunde physiologische Reaktion mit dem Ziel, Ressourcen so bereitzustellen, dass wir auf eine potentielle Gefahr, etwa einen Angriff, reagieren können. Es ist wichtig zu verstehen, dass eigentlich alles, was uns stresst, von uns als Gefahr wahrgenommen wird. Die eigentliche Stressreaktion findet in einem alten Teil des Gehirns statt, dem sogenannten Reptiliengehirn. Wenn dort eine Gefahr erkannt wird, kommt es zu einer Hormonausschüttung.
Die erste Reaktion ist bei jedem Menschen gleich. Wir müssen entscheiden, ob für uns eine Gefahr besteht oder nicht. Im sozialen Kontext kann diese Reaktion zum Beispiel durch Aggressionen oder sogar Mikroaggressionen ausgelöst werden, die oft als Scherze oder Spässchen verpackt werden, uns aber trotzdem Stress bereiten.
Wie schon erwähnt, werden dabei Stresshormone ausgeschüttet. Nach ungefähr 90 Sekunden werden diese Hormone wieder ausgeschwemmt, bis sie nicht mehr in der Zirkulation sind. Unser kognitives Gehirn entscheidet dann, ob die Stressreaktion weitergehen soll. Unter Umständen bewirkt eine Weiterführung der Stressreaktion einen dauerhaften und damit ungesunden Stresszustand.
Wie wirkt sich Stress über längere Zeit auf den Körper aus?
Wenn wir drei Tage lang zu viele Kalorien verbrauchen, zu wenig schlafen, zu hohen Blutdruck oder erhöhten Herzschlag haben, bedeutet das Stress für den Körper. Doch das hat keine negativen Folgen. Aber wenn wir über Monate in einer Stresssituation sind, dann werden Systeme, die normalerweise unbewusst laufen, vernachlässigt. Eines dieser vernachlässigten Systeme ist unser Immunsystem. Durch falsche Ernährung oder Schlafmangel kann es auch in anderen Bereichen zu einem Defizit kommen. Besonders schädlich sind solche anhaltenden Defizite in der Wachstumsphase von Kindern und Jugendlichen, weil sie zu Wachstumsstörungen führen können.
Dann gibt es noch das Phänomen des Traumas. Ein Trauma kann ausgelöst werden durch ein nicht zu bewältigendes Übermass an Stress in einer existenziellen Situation. Dann perpetuiert das Gehirn die Stressreaktion über einen langen Zeitraum, was dazu führt, dass man immer nervös ist. Unsere Ressourcen werden dann fortwährend dazu verwendet, für alle Eventualitäten bereit zu sein, ständig zwischen fight, flight und sich totstellen zu entscheiden. So haben wir aber keine Ressourcen mehr, uns zu erholen, unsere DNA zu reparieren und unser Immunsystem zu stärken.
Stimmt es, dass Eltern, die längere Phasen von Stress durchlebten, die Erinnerung daran an ihre Kinder vererben?
Ja, dies ist ein komplexes Phänomen, das wir durch das Forschungsgebiet der Epigenetik erklären können. Wir alle benutzen unsere DNA in unserem Leben. Alles, was wir tun, hinterlässt nachweisbare Spuren. Das heisst, man kann anhaltende oder wiederkehrende hohe Stressbelastung in der DNA eines Menschen tatsächlich nachweisen. Wenn wir unsere DNA dann an unsere Nachkommen weitergeben, vererben wir eben auch die Information der hohen Stressbelastung.
Um das zu veranschaulichen: Wenn eine Nation beispielsweise Hungerjahre durchmacht, beobachtet man in der folgenden Generation Prädispositionen für gewisse Krankheiten. Der Grund dafür liegt nicht etwa in einer schnellen Evolution der DNA-Sequenzen, sondern in der Weitergabe von Erbinformationen, die gewissermassen die Erinnerung an den Hunger tragen.
Sind gewisse Menschen anfälliger für Stress als andere?
Gewisse Menschen sind anfälliger, ja. Der Grund dafür liegt aber nicht in der Biologie, sondern in der persönlichen Entwicklung. Gefahren und Stressoren sind immer Teil eines Kontextes. Ein wesentlicher Teil dieses Kontextes ist die Stress empfindende Person. Nicht alle können gleich gut mit Stress umgehen, denn jeder Mensch hat je nach Stressor eine andere Resilienz. Eine bestimmte Situation mag für den einen stressig sein, für eine andere hingegen nicht. Was einen stresst oder eben nicht, hat wesentlich mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Insofern ist eine Stressreaktion auch individuell.
Interessanterweise erfahren Tiere Stress anders als wir. Beispielsweise sind alleZebras einer Herde gestresst, während sie gejagt werden; sobald der Löwe aber ein Zebra gerissen hat, können die anderen Zebras sich wieder entspannen und weiteräsen. Bei Menschen hingegen bleibt der Stressor im Kopf und setzt sich dort fort.
Ist Stress ein Verursacher neurologischer Probleme? Und was für Probleme könnten das sein?
Im gestressten Zustand ist unsere Wahrnehmung eingeengt, speziell wegen der Cortisol-Ausschüttung. Dies bedeutet, dass unsere Interaktion mit der Umwelt eingeschränkt ist, und vor allem, dass wir nichts Neues lernen können.
Was ist der biologische Nutzen von Stress und was sind seine positiven Aspekte?
Die Stressreaktion hat aus biologischer Sicht über viele Jahrtausende unser Überleben gesichert. Wir Menschen haben ja eigentlich eine sehr schlechte Ausgangslage für das Überleben auf dieser Welt: kein Fell, keine besonderen Zähne, keine besondere Muskelkraft oder Grösse. Dennoch sind wir auf diesem Planeten die grösste Gruppe von Säugetieren. Das liegt, zumindest zum Teil, an unserer angeborenen Stressreaktion, die uns einen evolutiven Vorteil verschafft. Unserem rationalen Gehirn kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Es entscheidet aufgrund von unseren Erfahrungen, ob eine Situation für uns gefährlich ist. Müsste ich beispielsweise eine halbe Stunde lang den Flugverkehr über Zürich koordinieren, wäre diese Situation für mich total stressig. Menschen, die diesen Beruf jeden Tag ausüben, sind davon aber natürlich nicht gestresst.
Stress hat auch soziale Vorteile. Die Fähigkeit des Menschen, sowohl physische als auch soziale Gefahren zu erkennen und Probleme zu antizipieren, ist ein Riesenvorteil. Tatsächlich allerdings ist das, was wir heutzutage als bedrohlich empfinden, selten physischer Natur. Viel zahlreicher sind soziale Situationen, die wir als gefährlich einstufen.
Sind Patient/-innen mit stressbedingten Problemen in den letzten Jahren häufiger geworden?
Ich glaube nicht. Für die häufigsten Erkrankungen in der industrialisierten Welt gibt es eine sehr zuverlässige Prävention: Impfungen, Blutdruckmittel, Schlafmittel, Diabetesbehandlung und Immunsystemstärkung. Über die letzten Jahrzehnte wurde diese Prävention zudem immer besser. Meiner Meinung nach ist das der Grund, weshalb stressinduzierte Krankheiten nicht zunehmen. Was aber natürlich nicht heisst, dass die Menschen weniger Stress hätten.
Was ist aus der Perspektive eines Neurologen das wirksamste Mittel gegen Stress?
Schlaf. Sport. Soziales Netzwerk. Mit Hilfe dieser Faktoren können wir Verhaltensstrategien entwickeln, die uns beim Stressabbau helfen.
Prof. Dr. med. Krassen Nedeltchev ist Chefarzt Neurologie und Leiter des Stroke Centers am Kantonsspital Aarau KSA. Zudem ist er Präsident der Medizinischen Kaderkonferenz, welche die Geschäftsleitung des KSA in Fragen zu medizinischen und betrieblichen Belangen berät.
Bild: Alexandra Ellena