2021, Kultur, Sage & Schreibe Nr. 33

Ava und ich

von Sophie Kuse

14. März 2017–Eigentlich wollte ich gestern noch einenEintrag machen, aber als ich mich endlich dazu hingesetzthatte, fing Noemi an zu schreien und ich habe es letztendlichvergessen. Leider weiss ich auch nicht mehr, was ich schrei-ben wollte, also kann ich es auch nicht mehr nachtragen.Aber jetzt zum heutigen Tag. Es ist mir endlich gelungen,240 km zu fahren! Ich bin so beflügelt und kann es selbstkaum fassen. Übermorgen gehts an den Wettkampf und ichhabe die Distanz sogar trotz sieben Tagen Trainingspausegeschafft. Aber leider kann ich diesen Erfolg nicht mit Yonasteilen. Der Arme liegt mit Grippe im Bett.

15. März 2017–Ich bin so aufgeregt, ich weiss gar nicht,was ich schreiben soll. Alles, woran ich denken kann, ist dermorgige Wettkampf. Wie lange habe ich (und hat auch Yonas)für diesen Tag trainiert? Es tut mir so leid, dass er nicht teil-nehmen kann. Die Grippe hat ihn einfach im falschen Mo-ment erwischt. Jetzt fühle ich mich aber doppelt unterDruck, weil ich auch für ihn einen guten Platz belegen will.Ich habe von allen Seiten Glückwünsche erhalten und binsicher, dass mich einige meiner Arbeitskollegen und -kol-leginnen im Fernsehen verfolgen werden. Das macht michziemlich nervös. Jedenfalls habe ich alles vorbereitet, sogardie Reifen habe ich nachgepumpt und die Kette geölt.

01.07.2019–Ich bin wieder da. Nach fast zwei Jahren.Wach, aber irgendwie noch gar nicht wieder da. Der Doktorsagt, das sei normal. Normal, sagt er!Jetzt schreibe ich also in dieses Buch. Offenbar hat esheute jemand vorbeigebracht, die Pflegerin wusste abernicht mehr, wer es gewesen war. Sie meinte nur, es sei meinaltes Tagebuch. Irgendwie fühlt es sich falsch an, in das Ta-gebuch einer Person zu schreiben, die man nicht kennt. Also,es ist meins, aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe all dieEinträge gelesen, kann mich aber damit nicht identifizieren.Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich mich nicht spüre.Weder die Beine noch den Bauch, ich weiss nicht, ob es kaltoder warm ist im Raum, ich fühle gar nichts. Ich hätte niegeglaubt, so zu enden. Wie ein Kartoffelsack. Den ganzenTag versuche ich meine Beine zu heben, etwas zu sagen oderzumindest zu schlucken. Keine Chance. Es ist, als hätte ichvergessen, wie es geht, obwohl ich es wahrscheinlich nie be-wusst gewusst habe. Das ändert aber nichts an der Tatsache,dass dieser Zustand die absolute Hölle ist. Ich schäme michjedes Mal, wenn die Pflegerin kommt und meine Windelnwechselt. Es ist einfach nur demütigend.

05.08.2019–Also, scheinbar ist das wirklich mein Buch.Gestern ist eine Frau zu mir gekommen, meine Mutter. Je-denfalls hat sie das behauptet. Es ist mir alles zu viel. MeinName? Keine Ahnung, wie mein Name lautet. Alle nennenmich Ava, aber ich verknüpfe kein Gefühl mit diesemNamen, eine Erinnerung schon gar nicht. Ava fühlt sich nichtrichtig an, und trotzdem steht auf meinem Patientenarm-band Ava-May Link.

06.08.2019–Tschuldigung, ich bin gestern einfach weg-gedöst beim Schreiben. Ständig schlafe ich unwillentlichein oder pinkle ins Bett, es ist ein Alptraum. Meine Beinesind noch immer tot, und auch mein Gesicht ist taub. Ge-fangen in einem Körper, der mir nicht gehört. Mein Körperheisst Ava-May, habe ich das schon gesagt?

07.08.2019–Die Frau, also meine Mutter, die mir diesesBuch hier mitgebracht hat, war heute wieder zu Besuch. Wirlernen uns langsam kennen.

08.08.2019–Ich habe nochmals die alten Einträge ge-lesen – und versuche zu begreifen. Ich versuche zu begreifen,weshalb ich hier bin, weshalb mir all die Leute, die mich be-suchen kommen, so fremd sind, und weshalb ich mich nichterinnern kann, die Person gewesen zu sein, die die Leutehier besuchen kommen. – Wenn ich wenigstens sprechenkönnte. So sehr ich es versuche, es kommt kein Wort übermeine Lippen. Es ist, als würden meine Worte im Kopf los-geschickt, doch dann, kurz vor dem Ziel an irgendeinemHindernis abprallen. Meine grösste Leistung war ein homo-habilis-artiger Laut, so in etwa wie ein Affe, der «uh,uh»macht. Diese Tatsache erschwert so einiges und treibt michin den Wahnsinn, denn die Leute reden mit mir wie miteinem Hund. Passend dazu tätscheln sie noch meine Handoder streicheln mir den Kopf. Ich habe versucht, Fragen auf-zuschreiben, aber ich weiss nicht, womit ich beginnen soll.Ich schreibe hier sehr bedacht, weil alle drin lesen, so-bald ich fertig bin. Ich weiss das. Und es ist nicht okay, FrauSäusel. Wenigstens möchte ich um Erlaubnis gefragt werden.Das hat mit Respekt zu tun! Frau Säusel, wenn Sie das hierlesen, möchte ich Ihnen gerne sagen, dass sie verdammtnoch mal fragen sollen. Ich bin keine Zimmerdekoration!

09.08.2019–Ein weiterer Tag im Gefängnis meines un-brauchbaren Körpers, ein weiterer erfolgloser Versuch, mehrüber meine Vergangenheit zu erfahren. Die Zuversicht istwie eine Badezimmerseife, scheint es mir; es ist so gut wieunmöglich, sie zu fassen zu kriegen. Doch die kurzen Mo-mente, in denen man sie fast gekriegt hätte, treiben einenan, weiter nach ihr zu greifen.

11.08.2019–Wo soll ich beginnen. Ich habe mich heutezu ersten Mal im Spiegel gesehen. Mein kahl rasierter KopfVon Sophie KuseAva und ichTREFFPUNKT TEXT…..24……
25……hat mich zu Tode erschreckt. Ich weiss nicht, was ich erwartethatte, lange Haare vielleicht? Die Kahlheit ist schlimmer alsdie lange Narbe, die sich über den Schädel zieht. Und danndie Augen. Die Farbe habe ich mir nicht merken können,aber was mich schockierte, war die Leere in ihnen. Ich starrtein leere Augen, in einen tiefen Brunnen der Unergründlich-keit. Wer ist Ava? Wer bin ich?

12.08.2019–Heute war ich endlich soweit. Endlichkonnte ich meine erste und dringlichste Frage formulieren.Wie bin ich hierhergekommen? Auf die Antwort war ich abernicht vorbereitet. Frau Säusel sagte: «Sie haben an einemWettkampf teilgenommen. Am Tag des Rennens regnete es,dicker Nebel kroch über die Strassen. Entlang der langenGeraden zum Ziel stand viel Publikum. Als Noemi Sie er-kannte, riss sie sich von ihrem Vater los und rannte auf dieStrasse, direkt vor ihr Rad.»Mehr sagte sie nicht.

13.08.2019–Noemi. – Ich habe mein eigenes Kind ge-tötet.

16.08.2019–Wieso lässt man mich nicht einfach wiedereinschlafen. Für immer. Denn das alles ist nicht auszuhalten.An einen Gott glaube ich nicht, aber falls es ihn gibt, kanner mich mal!

19.08.2019–Heute war ein miserabler Tag, wobei solcheTage mittlerweile Alltag sind. Aber heute war ein extremschlechter Tag. Mama ist komplett zusammengebrochen,und ich konnte diese Frau, zu welcher ich langsam wiedereine Verbindung spüre, weder tröstend in den Arm nehmennoch ihr gut zusprechen! Es ist einfach so aussichtslos, alles.Eine Art Vor-sich-hin-Vegetieren. Und jedes Mal, wenn ichwieder etwas aus meiner Vergangenheit zu fassen kriege,eine Erinnerung, wirkt sie wie ein Messer, dessen Klinge manmit der Hand hält, weil der weiche Griff abgebrochen ist.Tiefe Wunden, die immer wieder aufplatzen und nie zu ver-heilen scheinen. Zum Kotzen.

20.08.2019–Heute habe ich keinen Besuch bekom-men. Nichts ist passiert, ausser dass ich zwei Stunden inmeiner eigenen Pisse liegen musste, weil Frau Säusel ver-gessen hatte, mir den Alarmknopf in die Hand zu legen.

23.08.2019–Noemi. Ich kann nur an diesen Namendenken. Aber da ist keine Erinnerung, nur ein tiefes, schwar-zes Loch.

24.08.2019–Ich kann es kaum fassen, Frau Säusel.Danke! Wenn sie das hier lesen: DANKE! Ich bin Ihnen über-haupt nicht böse, dass sie den heissen Tee auf meine Beineausgeschüttet haben! Denn ich habe endlich etwas gespürt!

25.08.2019–Heute ist mein Mann gekommen. Zumersten Mal. Denn, ja: Ich habe einen Ehemann. Frau Säuselsagt, er heisst Yonas. Aber er könnte auch Jonathan heissenund mein Bruder sein, ein Pfleger, eine Putzhilfe. Ist es zufassen? – Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Er weinte,und dann ging er wieder, ohne etwas gesagt zu haben. EinFoto hat er dagelassen: Das – das ist meine Tochter. Das warNoemi.

26.08.2019–Dieser Tag soll dick in meinem Kalendermarkiert werden! Er ist der Tag der Zuversicht. Erst hat meinZeh gezuckt, dann kam der Arzt. Er meinte, es gäbe eineChance auf Besserung. Ich soll tatsächlich wieder selbstatmen können! Es werde eine Zeit dauern, sagt er, aber egal:Ich werde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht fürimmer an diese Maschinen in diesem elenden Raum gefes-selt bleiben. Es lohnt sich also, weiter zu kämpfen. Es lohntsich!

29.08.2019–Besuch von Mama. Sie zeigte mir ein Han-dyfoto, auf dem man den Grabstein von Noemi sieht. Er istwunderschön. Ein dunkler Stein, uneben, aber trotzdemruhig. Kein Spruch ist eingemeisselt, aber das Grab ist über-sät mit vielerlei bunten Blumen. Da will ich hin. Irgendwannwerde ich dich besuchen, Noemi. Bald.

05.09.2019–Die letzten Tage waren ermüdend, es gehtalles viel zu langsam. Wenigstens habe ich jetzt ein Ziel,etwas, das mich vorantreibt. Noemi. Ich werde dich um Ver-gebung bitten. Ich weiss, es ist sinnlos, aber ich werde estun. Für mich.

07.09.2019–Mama sagt, Yonas kommt nicht mehr.Danke, Yonas. Aber natürlich, ich versteh dich. Wer hat schondie Kraft, an der Seite einer halbtoten Kindsmörderin, dieihn nicht mal mehr erkennt, in die Zukunft zu gehen. Es istokay, Yonas. Damit ist alles gesagt.Dafür kommt Mama jetzt alle zwei Tage. Ich habe ver-sucht, dankbar zu gucken – und war zum ersten Mal froh,als sie ging. Ich weiss nicht, was ich ohne dieses Buch machenwürde. Ich weiss überhaupt nichts mehr. – Doch: Mama wirdmich mit dem Rollstuhl zu Noemi bringen. Das hat sie ver-sprochen, und sie wird das Versprechen halten. Wenn dieZeit gekommen ist. Und die Zeit wird kommen. Das Ge-spräch mit Noemi wird mir nicht das Kind zurückgeben,aber vielleicht mich selbst. Dafür zu kämpfen – das bin ichmir verdammt noch mal schuldig.