Kultur, Sage & Schreibe Nr. 24

Begrenzt grenzenlos

Ich sass in einem Zug, der mich von meiner verregneten Heimatstadt fortbringen sollte, irgendwohin, wo die Sonne meine Haut aufzuwärmen vermochte. Und mein Herz.
Das Spiegelbild auf der Zugscheibe liess mich blasser erscheinen, als ich eigentlich war, fast schon zerbrechlich. Ratternd schleppte sich die Maschine durch die gleichförmige Landschaft.

Um zwei Uhr nachts hatten wir vor dem eisernen Zaun des Freibades gestanden, müde, eine unausgeglichene Mischung aus Weissbrot und Wein im Bauch. Zehn Minuten später stand ich auf dem Sprungturm. Ich war alleine mit ihm und der aufgeladenen Nachtluft. In der Ferne zogen schwarze Gewitterwolken auf, nach jenem schwülen Maitag. Ab und an ein entfernter Blitz, ein dumpfes Donnern. Die Farbe des Himmels verschmolz mit dem wasserlosen Grund des Schwimmbeckens.
Ich wich seinem Blick aus, so wie ich schon immer alles gemieden hatte, das mich hätte berühren können. Abgesehen von ein paar betrunkenen, unvermeidbaren Küssen an rauchverhangenen Partys hatte ich keine Beziehungen zu Männern erlebt. Küsse bei strömendem Regen, Abendessen im Kerzenschein, Schmetterlinge im Bauch – davor war ich zurückgewichen. Ich starrte in die Ferne, hinunter in die Tiefe und manchmal zu ihm.
Wieso ich ihn hierher gebracht hätte, wollte er wissen.
Einer dieser Sorte also. Unpassende, indiskrete, stechende, aufwühlende Fragen. Eigentlich konnte er nichts dafür. Niemand kannte mich, und bis anhin hatte mich das nie gestört.
Ich hätte alleine herkommen sollen.

Der Zug schwankte bedrohlich hin und her. Im letzten Moment umfasste meine linke Hand den Kaffeebecher, der auf der sowohl klebrigen wie rutschigen Ablagefläche gestanden hatte, bevor er das Gleichgewicht verlor. Jemand musste ihn stehengelassen haben. Ein grosser Tropfen brauner Brühe landete auf dem schneeweissen Stoff meiner neuen Schuhe.

„Wieso antwortest du mir nicht?“
Weil ich es selbst nicht weiss, verdammt nochmal! Das hatte ich nicht gesagt. Stattdessen drehte ich mich ruckartig um und küsste ihn auf diese ungeübte Weise, in der ich auch Zwiebeln hackte. – Es gibt Menschen, die es stört, wenn Zwiebelstücke nicht in perfekte Würfelchen geschnitten sind. Er gehörte dazu, ich war mir sicher.
Nach etwa zwanzig Sekunden begann ich an die tote Katze meiner Grossmutter zu denken, und an die Mäuse, die sich seit ihrem Dahinscheiden in der Küche tummelten.
Ich löste mich von ihm ab und blickte in seine Augen. Ich hatte klassisches Bilderrahmenbraun erwartet, musste mir nun jedoch eingestehen, dass er fast schon unnatürlich schöne Augen hatte. Ein grünliches Blau, überzogen mit dem Glanz des Meeres am frühen Morgen.
Plötzlich spürte ich einen Regentropfen auf meiner Wange.
„Lass uns ein trockenes Plätzchen suchen“, schlug er vor.
„Kannst du von mir aus gerne tun“, hörte ich mich sagen.

Die monotone Stimme der Zugsprecherin kündigte die Endstation der Zugstrecke an, worauf ich aus dem Wagon stieg. Irgendwo in einem grenznahen Dörfchen, wo die Trauben noch Kerne haben durften.

von Sara Trailovic