Noch vor wenigen Jahren waren sogenannte Männer- beziehungsweise Frauenberufe selbstverständlich. Unsere heutige Gesellschaft legt jedoch zunehmend Wert darauf, diese stereotypen Berufsbilder aus dem Weg zu räumen und Platz für mehr Diversität zu schaffen. Wirklich? – Leonie Kihm und Alessia Marta Hostettler vom Redaktionsteam haben eine Pilotin und einen angehenden Fachmann Gesundheit bei ihrer Arbeit besucht und über die Beziehung von Beruf und Geschlecht befragt.
Esther Hess: Souveränes Flüstern
Im Operation Center des Flughafen Zürichs sind wir umzingelt von Frauen und Männern in Uniform. Members der Cabin Crew, Piloten und eine Pilotin treffen sich vor jedem Flug hier im OPC. Die Stimmung ist gut, und es liegt Reiselust in der Luft. Die Pilotin heisst Esther Hess, sie ist Senior First Officer auf dem SWISS Airbus 330/340, und sie nimmt uns mit in ihre ganz persönliche Welt der Aviatik, in welcher Nachtflüge mit Blick auf die Nordlichter oder Langstreckenflüge von mehr als 12 Stunden keine Seltenheit sind.
Der Weg in die ewigen Lüfte
Esther Hess ist schon immer eine sehr reisefreudige, neugierige und kontaktfreudige Person gewesen. In der Nähe des Flugplatzes Birrfeld aufgewachsen, habe sie schon früh den Wunsch verspürt, selbst mal so ein Flugzeug zu steuern. Bereits mit 17 Jahren konnte sie sich den Traum der Privatpilotenlizenz (PPL) erfüllen. Nach der Matura an der Alten Kanti (Schwerpunkt Mathematik, in einer Klasse mit liediglich vier Frauen) studierte sie Sport- und Bewegungswissenschaften an der ETH. Heute sitzt sie berufeshalber im Cockpit eines Airbus, zieht den Stick nach hinten und hebt mit 275 Tonnen ab in die Lüfte. Was bewegt sie denn an ihrem Beruf? «Die Passagiere», antwortet sie, ohne zu zögern. «Da gibt es immer wieder ganz besondere, bereichernde Begegnungen.» Es komme immer wieder vor, dass ein Kind ihr eine Zeichnung schenke. Für sie ist das ein Beweis dafür, dass sie ihren Job gut macht. «Und wenn man eine Sache gut macht», schiebt sie nach, «gibt es überhaupt keinen Grund, an sich selbst zu zweifeln.».
Als Frau in einem «Männerberuf»
In der Luftfahrt arbeiten auch heute noch deutlich mehr Männer als Frauen. SWISS beschäftigt rund 4.9% weibliche Pilotinnen, auch wenn die Fluggesellschaft aktiv nach weiblichen Pilotinnen sucht. Esther Hess erläutert, dass der Beruf noch immer von Stereotypen geprägt ist. Obwohl beide Geschlechter dieselbe Ausbildung durchlaufen, müssten Frauen sich tendenziell mehr beweisen oder für die gleiche Benotung eine bessere Leistung erbringen. «Aufgrund der Geschlechterverteilung», sagt sie, «steht man als Frau unweigerlich im Fokus, was zu einem ziemlich hohen persönlichen Druck führt. – Ein Beispiel: Wenn man als Frau leise spricht, wird dies als Unsicherheit gewertet. Ein Mann hingegen wird in derselben Situation nicht als unsicher eingestuft, sondern als souverän und gelassen.» Hess muss sich auch immer wieder frauenfeindliche Kommentare wie «Oh, das kann eine Frau auch…» oder «Ist da auch ein Mann im Cockpit? Dann ist die Operation gerettet» anhören. In Genf seien sogar einmal zwei Passagiere ausgestiegen, als sie hörten, dass kein Mann im Cockpit sass. Von solchen Erfahrungen lässt sich Esther Hess aber nicht beirren. «Ich mache mein Ding und gebe bei jedem Flug mein Bestes. Ich muss hauptsächlich mit mir im Reinen sein.» Sie ist eine stolze Pilotin und liebt ihren Job. Denn bei der SWISS gebe es prinzipiell nichts, was sie als Frau nicht tun könne oder dürfe.
Ein Blick in die Zukunft
Esther Hess glaubt an die Wichtigkeit der weiblichen Rolle in der Zukunft der Aviatik. Auch wenn die Stereotypen in ihrer Generation noch ziemlich verankert seien, habe sie das Gefühl, dass die jüngeren Generationen immer toleranter und offener würden. Das wünscht sie sich jedenfalls. Schliesslich: «Die klassische Rollenverteilung in der Familie hat sich ja auch verändert.» Für die Pilotin ist klar, dass man heutzutage alle beruflichen Hürden überwinden kann, wenn man dies unbedingt will.
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Edion Ramadani: Unpopuläres ausprobieren
Im Seniorenzentrum Sanavita in Windisch werden wir von den Bewohnerinnen und Bewohnern angelächelt, die draussen die frische Frühlingsluft geniessen. In einem kleinen Büro neben den Zimmern treffen wir Edion Ramadani, Auszubildender Fachmann Gesundheit im 2. Lehrjahr. Die Stimmung im Raum ist von Anfang an entspannt, und Edion Ramadani, gekleidet in einen weissen Arbeitskittel, beginnt stolz von seiner Arbeit zu erzählen. Er sei ein sehr kontaktfreudiger Mensch, der den täglichen Austausch mit anderen Personen schätze und geniesse. Aus diesem Grund habe er sich für einen Beruf entschieden, welcher Abwechslung, Vielfalt und Begegnungen mit Menschen in seinen Alltag bringe. In seiner Freizeit schreibt Ramadani eigene Songs und beschäftigt sich mit Autos. «Typisch Mann», fügt er lachend hinzu. Auf unsere Frage, welche Vorteile er in seinem sozialen Beruf sieht, antwortet er, dass er täglich vieles für sein Privatleben lerne. Einerseits kriege er ein Gefühl dafür, wie man mit Menschen in verschiedensten Situationen umgehe und für sie da sei, andererseits schätze er das theoretische Wissen, das er sich in der Berufsschule aneigne. Wir fragen nach, wie die Klassenkonstellation in der Berufsschule aussehe – und werden überrascht. Von 25 Lernenden sind 20 weiblich und fünf männlich. «Das sind vergleichsweise viele Männer», sagt Edion Ramadani. «Ich habe Freunde in Parallelklassen, in denen nur ein einziger Mann sitzt.»
Als Mann in einem «Frauenberuf»
Ähnlich wie in Ramadanis Berufsschule sind im Sanavita von über 140 Mitarbeitenden nur fünf männlich. Der angehende Fachmann Gesundheit ist der Meinung, dass ein stereotypes Berufsbild auch heute noch in unserer Gesellschaft verankert sei. Kommentare wie «Wieso hast du diesen Beruf gewählt? Das ist doch ein Frauenberuf!» musste auch er sich anhören. Er versichert uns, dass ihn solche Kommentare jedoch nicht interessieren und fügt hinzu, dass er den Beruf schliesslich für sich selbst mache, weil er ihm Freude bereite und ihn erfülle. «Noch vor einigen Jahren hätte mich so ein Kommentar jedoch stärker getroffen.» In der Frauentruppe des Sanavita fühlt er sich vorurteilslos akzeptiert. «Die Mitarbeiterinnen finden es nicht komisch, dass ich hier arbeite. Im Gegenteil», sagt Edion Ramadani mit einem Lächeln. Es gibt jedoch Situationen, in denen «Mann sein» zum Nachteil wird. Es gibt Bewohnerinnen, die nicht von einem Mann gepflegt werden wollen, sei es aus religiösen oder persönlichen Gründen. Ramadani räumt ein, dass auch er sich in solchen Situationen unwohl fühle. Um es den Bewohnerinnen und sich selbst einfacher zu machen, tauscht er nötigenfalls den Einsatz gerne mit einer weiblichen Mitarbeiterin.
Ein Blick in die Zukunft
Die Zukunft des Pflegeberufs schätzt Edion Ramadani positiv ein. «Viele Betriebe geben sich Mühe, auch Männer anzuziehen und werben damit auf Social Media.» Er wünscht sich, dass sich Jugendliche in Zukunft trauen, etwas noch «Unpopuläres» auszuprobieren. Es sei enorm wichtig, seinen Träumen nachzugehen, ganz egal, was die Gesellschaft dazu sagen könnte. Edion Ramadani findet, es sei an der Zeit, dass dieser Beruf auch für Männer zur Normalität werde.
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