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Zimmer 11

Vaters Hand umklammert meine. Er hält sie ungewohnt fest, so dass die zarten Fingerchen meiner Kinderhand fast abgedrückt werden. Die freie Hand folgt der weiss gestrichenen, rauen Wand. Wieder biegen wir um eine Kurve, diesmal wenden wir uns nach rechts und folgen den nummerierten Zimmertüren. Alle diese Türen haben denselben grau glänzenden Knauf, dieselbe weiß lackierte Oberfläche. Unsere Schritte eilen uns voraus, ergießen sich vor uns in den fast menschenleeren Gang und hallen von den kalkweißen Wänden. Vereinzelte Gestalten, in weiße Kittel gehüllt, fließen ruhig wie kleine Rinnsale von einem Zimmer ins nächste. Ansonsten ist es bedrückend still. Wir folgen weiterhin dem immer enger werdenden Flur. Ich weiß, wohin dieser Weg uns führen wird. In meinem Kopf schwappen die Gedanken wie eine dicke Flüssigkeit von der einen Wand zur anderen, klatschen gegen das Innere meines Kopfes, so dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Die Schlinge um meine Hand zieht sich noch enger zusammen und zerrt mich unerbittlich weiter. Da! Hier ist sie! Kalt, ohne Farbe, ohne Gefühl, versperrt sie uns den Weg ins Zimmer. …

Gespiegelt

«Du hast mein Leben zerstört, Marah. Das werde ich dich nie vergessen lassen!» Marah weicht vom Spiegel zurück. Ihr Spiegelbild funkelt sie aus kalten, grünen Augen an. Das waldgrüne Kleid schmiegt sich an ihre helle Haut. Sorgfältig streicht sie eine nicht-vorhandene Falte aus dem Kleid. Ihr Gesicht ist blass. Die kastanienbraunen Haare sind zu einem strengen Knoten zurückgebunden. Eine einzelne Haarsträhne sträubt sich widerspenstig, doch erfolglos – Marah streicht sie mit einer schnellen Handbewegung zurück an ihren Platz. Sie mag keine Unordnung. Alles muss absolut perfekt sein – und zwar immer! Sie wendet sich vom Spiegel ab und begibt sich nach unten. Nolan wartet schon auf sie an der Eingangstür. Er trägt einen dunkelgrünen Anzug, abgestimmt auf ihr Kleid. Alles passt, alles ist perfekt. Nach einigen Minuten Fahrt kommen sie an ihrem Zielort an. Vor dem majestätischen Gebäude steht eine Limousine neben der nächsten, eine schöner und imposanter als die andere. Mit ihrem Ehemann am Arm stolziert Marah durch das mächtige Eingangstor. Heute sollte sie endlich geehrt werden für all die harten Jahre voller Arbeit, …

Peace

Dicker schwarzer Edding wasserfest auf fast allen Materialien, auch auf dem Fensterglas der Strassenbahn. Der Junge steckte ihn wieder ein, schulterte seinen Rucksack aufs Neue, wartete genauso lange bis die blecherne Stimme verkünden liess: «Nächster Halt Kunsthaus», kramte dann ein Taschentuch aus einer seiner unzähligen Hosentaschen und liess damit die Träne aus seinem Gesicht verschwinden. Er streckte seinen Rücken durch, schob die letzte seiner widerspenstigen Strähnen unter die alte Mütze seines Vater, starrte noch ein letztes Mal auf seinen Schriftzug und trat mit einem angestrengten Lächeln aus der Strassenbahn auf die wartenden Menschen zu. Er würde das Wochenende schon irgendwie überstehen, wenn er ihnen keine Angriffsfläche bot. Was hatte der Junge mit der hässlichen Mütze bloss an dieser Scheibe gefunden? Die junge Frau verdrehte die schwarz umrahmten Augen, als sie das mickrige, unsicher wirkende «PEACE» in der unteren Ecke des Fensters sah. Nicht gut genug für meinen Account, dachte sie, stieg ein, zog sich die Kopfhörer wieder über die Ohren und schaltete die gleiche Musik wie immer ein. Das laute Schlagzeug übertönte den leisen Ton …

Finalis

Grässlich. Einfach grässlich. Endlich habe ich ein passendes Wort für die Kakofonie namens «Babywillstmeinneuesstückhören». Existiert eigentlich Ohrenkrebs? Ich fürchte, schon. Bestimmt gibt es Klänge, welche die Ohrenzellen mutieren lassen. Und am Ende werde ich eine Radio-Therapie in einem spezialisierten Krankenhaus irgendwo in Israel über mich ergehen lassen müssen. – Es regnet wieder. Zum wievielten Mal heute? – Vielleicht bin ich einfach zu altmodisch und checke das moderne Zeug nicht. Ich meine, wenn du mir von deinen musikalischen Reisen erzählst, die nur in deinem Kopf stattfinden, dann wird mir einfach nur übel. Moment – diese Passage kenne ich – die kommt auch in einem anderen Stück vor, nicht? Na ja. Mama hat immer gesagt, das Leben mit einem Musiker sei anstrengend. Sie hatte Recht. Mama hat immer Recht. Ich sollte sie vielleicht mal anrufen und fragen, wie es ihrem Pudel geht. Bono. Schon sein Vorgänger hiess so. Sie wählt immer denselben Namen. Keine Veränderungen – kein Stress. Gutes Motto, Mama.

Leichte Kost

Einhundert Gramm durchschnittliches Brot enthalten etwa zweihundertsiebenundsechzig Kalorien. Eine Schreibe davon wiegt ungefähr fünfzig Gramm, hier jedoch können wir von mindestens siebzig ausgehen. Also sind wir mit einer Scheibe schon mal bei einhundertneunundachtzig Kalorien. Je nach dem, von welchem Teil des Brotes das Stück stammt, lassen sich durch die Kruste weitere Kalorien addieren oder subtrahieren.