Die Welt des Nō-Theaters lädt uns zu einer Reise in die japanische Mythologie ein, aus der die Stücke, Figuren und das Bühnenbild entspringen. Besonders berühmt: die Nō-Masken, welche Furcht und Faszination zugleich erwecken.
Von Anna Piana und Tatjana Gligorevic, G2A
Gestalten in reich geschmückten, schweren Gewändern gleiten über den Boden. Eine davon ist der Mönch Yūkei, der auf Zehenspitzen lautlos über die Bühne huscht. Dicht hinter ihm die furchterregende Onibaba. Der Mönch befindet sich auf der Flucht vor dem Ungeheuer mit den riesig hervorstehenden Augen, bis es ihn schließlich einholt. – Es handelt sich bei diesem Geschehen um die dramatische Umsetzung der Legende «Onibaba von Adchigahara», bei der eine Frau Reisende anlockt, tötet und verschlingt. Ein typischer Stoff für das japanische Nō-Theater.
Die Handlungen im japanischen Nō-Theater stammen aus alten Erzählungen, aus der Literatur und teilweise auch aus aktuellen Ereignissen. Die Künstler kreieren ein tänzerisches und schauspielerisches Reich, das eng verwoben ist mit der Traumwelt und der des Übernatürlichen, während Seelen, Geister und Gottheiten in die zentralen Rollen schlüpfen. Die Sprache ist poetisch, jede Bewegung ist ausdrucksstark.
Unterschiedliche dramatische Formen
In der japanischen Kultur vereinen sich viele unterschiedliche, sich gegenseitig beeinflussende traditionelle Theaterformen. Neben Kyogen, Kabuk und Bunraku spielt das Nō-Theater eine zentrale Rolle. Es hebt sich dadurch vom westlichen Drama ab, dass es nicht lediglich zur Unterhaltung dient, sondern eher als spirituelles Ritual gesehen wird.
Ein Stück lässt sich anhand der darin vorkommenden Rollen einordnen. Ein göttliches Drama beinhaltet einen Gott oder eine Göttin, eine fremde mythologische Gestalt oder Himmelsgottheit, während ein Ungeheuer-Drama von einem Monster oder Fabelwesen handelt. Das Drama des Wahnsinns hingegen thematisiert ein aktuelles Thema. Im Gegensatz zum männlichen Drama, das oft kriegerischen Inhaltes ist und für den Helden tragische Schlachten beinhaltet, erzählt das weibliche Drama von einer schönen Frau, deren Schicksal von einer tragischen Liebesgeschichte voller Neid, Begierde und Zurückweisung besiegelt ist.
Tanz als existenzieller Ausdruck
Die über Jahrhunderte hinweg präzisierten Tänze bestehen aus einfachen Grundschritten (Muster, kata). Hierfür besuchen die Auftretenden regelmässig eine Tanzschule. Genau definierte Gesten deuten die Wesensmerkmale einer Figur an und heben ihre Gefühlslage hervor. Die kennzeichnenden Merkmale einer Empfindung haben einen hohen Wiedererkennungswert, ohne überspitzt dargestellt zu werden. Eine wesentliche Kata bildet das Weinen; dazu werden die Hände langsam vor das Gesicht gehoben. Den Kopf hängen zu lassen – auch das eine Kata –, verdeutlicht die schamhafte Traurigkeit oder aber die Spiegelung des eigenen Gesichtes oder das des Mondes auf einer Wasseroberfläche. Ein leicht gehobenes Kinn hingegen spricht für das Erkennen eines fernen Berges, des Mondes oder steht allgemein für Erheiterung.
Jahrhundertelange Tradition
Die Wurzeln des Nō-Theaters reichen bis in das antike China zurück, von wo die Theaterkünste über mündliche Überlieferung ihren Weg nach Japan fanden und schliesslich als Nō erstmals im 14. Jahrhundert aufgeführt wurden. Die Internetseite «www.artelino.com» berichtet von einem der wichtigsten Autoren: Kan’ami Kiyotsugu (1333-1384). Er schrieb bedeutende Stücke und schlüpfte auf der Bühne gleich selbst in die entsprechenden Rollen, was damals alles andere als ungewöhnlich war. Sein Sohn Zeami Motokiyo (1363-1443) wurde zu einer der prägendsten historischen Persönlichkeiten des Nō-Theaters. Er schrieb unzählige Stücke, von denen wir einige heute noch zu sehen bekommen. In den Anfängen des Nō-Theaters waren Aufführungen einem adligen Publikum vorbehalten. Traditionell wurden zudem alle Rollen mit Männern besetzt – also auch die der weiblichen Figuren, der Musiker und Nebendarsteller.
Die Masken
Ein zentrales Merkmal des Nō-Theaters sind nicht zuletzt die Masken. Diese ermöglichen die Darstellung von Typen mit definierten Rollen. Eine strikte Zuteilung der Masken zu einer spezifischen Figur existiert hingegen meistens nicht; die Darsteller wählen diejenige aus, die ihres Erachtens am besten zur Interpretation des Stückes passt. Durch die schmale Form stimmen die Ränder der Maske nicht mit denen des Gesichts überein und der Darsteller wirkt auf den Zuschauer grösser. Durch das Zusammenspiel von Licht und Schatten rufen die Gesichtszüge unterschiedliche Empfindungen hervor. Erst durch den richtigen Umgang mit der Maske werden die Figuren zum Leben erweckt. Wie auch der Blog «www.japanwelt.de» in seinem Bericht über das Nō-Theater schreibt, kennzeichnen die Masken also nicht nur die jeweilige Rolle, sondern auch die Gefühlswelt der Figur.
Die Masken selbst bestehen aus Zypressenholz, welches zuvor lange in Salzwasser ruhte. Im japanischen Theater werden sie besonders geschätzt und respektiert, weswegen die Darsteller vor dem Aufsetzen kurz innehalten und sich bedanken.
Das Nō-Theater beabsichtigt nie, realistisch zu sein. Es soll mit Hilfe der markanten Masken vielmehr tiefgründig und mythisch wirken. Aus ursprünglich 60 Arten entwickelten sich eine Figuren- und Emotionspalette von über 200 verschiedenen Masken. Neben der Bühne findet man die Masken als angesehene Kunstwerke auch in Museen. Ebenso die farbenreichen Kostüme, die einen deutlichen Kontrast bilden zur minimalistisch gehaltenen Bühne, auf deren Hintergrund oft lediglich eine gemalte Kiefer zu sehen ist.
Damit die Tradition erhalten bleibt, werden heute die Erzählungen inhaltlich in die Gegenwart geholt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden zudem immer mehr Rollen von Frauen verkörpert, wobei der Mann als Darsteller immer noch dominiert. Was sich auch darin zeigt, dass die Rolle des erwachsenen Mannes keiner Maske bedarf. Trotzdem gehen die Zeichen der Zeit also auch an einer der traditionsreichsten Formen des Theaters nicht spurlos vorbei.