2025, Aktuelles, Alte Kanti, Interview, Menschen, Sage & Schreibe Nr. 40

Der Stundenplan: Mythos und Wahrheit 

Ein Selbstgespräch

Von Hans-Jürg Suter, Englischlehrer und Stundenplaner

Wie lebt es sich als meistgehasster Mann an der Alten Kanti? Ob du das werden wolltest, hatte dich ja 2002 eine besorgte Kollegin gefragt.
Nein, das wollte ich nicht; aber Stundenplaner werden, schon. Ich meine, ich bin letzteres geworden, ohne ersteres zu sein. Falls ich mich täusche: Richtigstellungen bitte an hans-juerg.suter@ag.ch.

Das ist leicht gesagt, wenn du kritische Leute mit einem Strafstundenplan disziplinieren kannst.
Das nervt! Eine perfide Unterstellung, ein Schreckgespenst, das (selten, hoffe ich doch) in fast leeren Lehrerzimmern im Flüsterton aus dem Schrank geholt wird. Leider werden haltlose Unterstellungen manchmal geglaubt – mir klingt da ein Soundbite aus der vergangenen Präsidentschafts-Wahl in den USA im Ohr nach: «They’re eating the daawgs, they’re eating the cats – they’re eating the pets of the people who live there!»

Ja gut, den letzten Satz schneiden wir dann später raus. Zu politisch. Wie reagierst du denn, wenn dir eine solche Aussage doch zu Ohren kommt?
Mit einem Strafstundenplan.

Haha! Aber mich interessiert jetzt doch, warum du Stundenplaner werden wolltest.
Ich stellte es mir spannend vor: schwierig, aber erfüllend; ein Weg, unsere Schule von allen Seiten kennen zu lernen. Und ich suchte damals neben dem Unterricht noch etwas anderes. Und hatte doppelt Glück: Die Stundenplanung ist bis heute spannend, schwierig und erfüllend; unsere Schule kenne ich inzwischen in- und auswendig – und gerade weil ich diese zweite Aufgabe hatte, unterrichte ich bis heute mit grosser Freude.

Was macht einen guten Stundenplaner aus?
Der gute Stundenplaner ist natürlich männlich und Mathematiker. Physik und Chemie gehen notfalls auch. Gefragt sind scharfe Intelligenz, Ratio, Logik, Computerkenntnis. Das haben Frauen (und Englischlehrer) nicht in genügendem Mass.

Wirklich?
Nein. Das ist Blödsinn. Es fühlte sich aber in den Nullerjahren, als ich anfing, so an. Bei den legendären Stundenplaner-Seminaren in der Salzburger Residenz gingen die zwei bis drei Frauen in einer Masse von stark bebrillten deutschen und österreichischen Mathematikern mit Oberstudienratsbart unter.
Wahr ist: Es geht ohne y-Chromosom, ohne Bart, sogar ohne Brille vermutlich. Ganz ohne Intelligenz nicht.

Die Intelligenzbestie im stillen Kämmerlein also?
Gründlich muss man sein. Tüpflischiisserei hilft. Ohne Geduld geht nichts: Dranbleiben muss man – da hilft das stille Kämmerlein. Dieses ist auch nützlich, wenn man aus Frustration über ein unlösbares Problem oder einen Programmfehler einmal laut wird. Das wird sonst peinlich – auf der Insel Föhr wurde ich schon mit einer Alarmsirene verwechselt.

A propos Intelligenz, Gründlichkeit und Geduld: Jede KI macht deinen Job besser als du.
Nein. Kann ich mir nicht vorstellen. Glaube ich nicht. Einen Stundenplan bringt sie wohl zustande. Aber keinen besseren, im Gegenteil. Da spielen zu viele soft factors mit, implizites Wissen, persönliches Gespür. Das behaupte ich hier einfach mal.
Zudem, dem stillen Kämmerlein zum Trotz: Kommunikation ist zentral. «Me mues halt rede mit em Veh», sagte mein Vater früher. Ob eine KI das auch täte? Am Telefon, auch am Wochenende, am Abend, in den Ferien: «Diese Sperrung geht beim besten Willen nicht, was machen wir?» Per E-Mail, vor der Publikation: «Ich weiss, du wirst nicht Freude haben an deinem Montag; das liegt daran, dass…» – Das fördert Verständnis, glättet Wogen und hilft gegen das Abgleiten zur meistgehassten Person an der Schule.

Stundenplaner pflegen zu sagen: «Mir ist egal, wer unter mir Rektor ist» – und meinen es auch.
Kenne ich. Sage ich aber nicht. Meine ich auch nicht. Aber ich weiss, dass eine ehemalige Kollegin unseren früheren Rektor tatsächlich einmal gefragt hat: «Wer ist eigentlich hier Rektor, du oder Hans-Jürg?», als ihre masslosen Wünsche nicht erfüllt wurden.
Es ist nun mal so: Stundenplaner/-innen haben viel Verantwortung. Die Möglichkeit, Macht auszuüben, ist meist eine enge Begleiterin der Verantwortung. Daher muss die Führung der Schule wissen und verstehen, was bei der Stundenplanung passiert; die Stundenplaner/-innen müssen Rechenschaft ablegen; und sie müssen Kritik aus dem Kollegium ernst nehmen (aber sich auch gegen Unterstellungen wehren).

Wie auch immer: Du bestimmst ganz allein jedes Jahr über das Leben von 1400 Menschen.
Jetzt sind wir bei den Allmachtsphantasien. Wer solche hat, verkennt die Grösse des Gestaltungsspielraums in einem komplexen Organismus wie der Alten Kanti. Die Abteilung, die einen freien Nachmittag will, wenn die Schüler/-innen insgesamt über 50 Lektionen belegen, ist so naiv wie die Lehrperson, die beim Erscheinen des Stundenplans ihre sechs Freitagslektionen doch lieber am Dienstag hätte.
Wahr ist: Der Stundenplan bestimmt den Arbeitsalltag vieler Menschen erheblich. Dieses Wissen erfordert Verantwortungsbewusstsein und den zähen Willen, es möglichst gut zu machen – für das Ganze. Wer da in einen Machtrausch gerät, anstatt manchmal schlecht zu schlafen, ist fehl am Platz.
Was aber auch stimmt: Verglichen mit einer Lehre und mit den allermeisten Berufen lässt unser System den Schüler/innen und Lehrpersonen neben den Festlegungen durch den Stundenplan viel Freiheit zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung. Das vergisst man gerne, weil klagen so gut tut.

Du behauptest sicher, es gebe keinen schlechten Stundenplan, nur eine schlechte Einstellung dazu.
Nein – obwohl… Also so: Ich fürchte, es gibt ihn, den Stundenplan, der einen nachhaltig belastet. Allerdings ist die Definition von schlecht stets auch subjektiv, abhängig von Umständen und Persönlichkeit, und so bei der Planung kaum einzukalkulieren.
Was ich aber schon glaube: dass das Leben mit dem Stundenplan auch Einstellungssache ist. Nach dem einen oder anderen Gespräch zu Stundenplänen habe ich, zugegeben, den Satz «Lerne stöhnen, ohne zu leiden» vor mich hingemurmelt.

Das ist gar nicht nett. Aber du darfst gerne noch mehr auspacken: Wer fährt die Ellbogen aus und sieht nur noch sich, wenn es um die Stundenplanwünsche geht? Wir wollen Namen hören!
Das gibt es nicht bei uns. Ausser… nein. Die Antwort ist: Das gibt es nicht.
Man sagt, du schliesst Wetten ab, aus welcher Fachschaft am meisten Klagen kommen werden – und gewinnst immer!
Ich bin Stundenplaner, kein Spieler.

Ich habe sogar gehört, Schülerinnen würden für einen besseren Abteilungsstundenplan gedrängt, ihr Freifach aufzugeben. Schüler beteuern, sie schaffen easy neun Stunden ohne Mittagspause, damit sie früh nach Hause gehen können.
Du kennst doch unsere Leitsätze. Unsere Schülerinnen und Schüler sind durch und durch professionell.

Ach was. Man sagt, du wüsstest genau, bei wem der Mann daheim bei den Kindern mithilft und bei wem das Patriarchat ungebrochen herrscht. Du sollst Lehrpersonen kennen, die unfähig sind, sich in einer Zwischenstunde sinnvoll zu beschäftigen. Es gebe Leute, die tragen, wenn es um ihr Fach geht, Scheuklappen, wie man sie sonst nur auf der Pferderennbahn im Schachen sieht. Und –
Es reicht! Kannst du dir im Ernst vorstellen, dass es das bei uns gibt?

Nun gut. Aber sag doch wenigstens, wer dich wirklich, ich meine: wirklich zur Weissglut gebracht hat.
Ich habe mir das Image, dass ich stets ausgeglichen und ruhig sei, hart erarbeitet. Das will ich hier nicht aufs Spiel setzen.

Du enttäuschst mich. Höchste Zeit aufzuhören! Any famous last words?
Ich war 22 Jahre lang Stundenplaner. Eine lange Zeit. Wem es zu lang schien, darf jetzt aufatmen: Ab 2025/2026 übernehmen eine Mathematikerin und ein Mathematiker das Amt, aber beide ganz ohne Oberstudienratsbärte und -allüren. Das kommt gut.
Zum Schluss möchte ich all denen danken, die diese ganzen Jahre mit meinen Stundenplänen gelebt haben. Sie haben mir Vertrauen geschenkt, hatten Verständnis für unschöne Pläne und den einen oder anderen Fehler – sie haben es mir leicht gemacht.

Das tönt zu schön, um wahr zu sein.
Okay: fast immer. Meistens. Wir wollten ja bei der Wahrheit bleiben.

Na also.
Danke.

Hans-Jürg Suter, Englischlehrer und Mitglied der Schulleitung, tritt nach 22 Jahren per Ende Schuljahr 2024/2025 als Stundenplaner der Alten Kanti zurück. Sein Amt übernehmen Nora Mylonas und Pascal Christinat; beide unterrichten Mathematik.

Bild: Maurice Zimmermann