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Dicke Luft

Dunkelheit umgab die Hoffnung, als sie zum ersten Mal ihre Augen öffnete. Orientierungslos setzte sie sich auf und versuchte, ihre Umgebung zu erkennen. «Hallo?», rief sie zögerlich. Vielleicht waren ihre Freunde ja auch hier. «WO ZUM TEUFEL BIN ICH? WER HAT MICH HIERHER GEBRACHT?», kam es in ohrenbetäubender Lautstärke zurück. Na toll, das ist bestimmt die Wut, dachte Hoffnung. Aber mit ihr kann man sich sicher auch gut unterhalten. Sie kroch in die Richtung, in der sie vermutete, Wut zu finden. Dabei stiess sie auf einen noch regungslosen Körper, den sie als die Hinterlist identifizierte. Hoffnung schubste sie leicht, um sie zu wecken, doch plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper und Hinterlist packte Hoffnung. Sie legte ihre Hände um den Hals von Hoffnung und flüsterte drohend: «Sag mir sofort, wo wir sind, oder du wirst es bereuen!» «Ich habe keine Ahnung, du schon?», erwiderte Hoffnung. «Nein, natürlich nicht!»
Hoffnung wandte sich ab, um sich bei den anderen nach ihrem Wissen zu erkundigen, doch die wussten auch nichts. Zumindest war jetzt bekannt, wer alles an diesem dunklen Ort war: Neben Hoffnung so ziemlich alle negativen Gefühle sowie allerlei Krankheiten, welche jedoch nicht redeten. Nun musste Hoffnung schleunigst herausfinden, wo sie waren, damit sich die anderen nicht gegenseitig umbrachten. Sie tastete sich der Wand entlang einmal im Kreis, doch alles, was sie feststellte, war, dass der Raum etwa so gross war wie ein Saal und es keinen Ausgang zu geben schien. Sie zog sich in eine Ecke zurück und begann zu grübeln, wie sie einen Ausgang finden bzw. erschaffen könnte. Wir könnten zum Beispiel alle gleichzeitig gegen eine Wand rennen und diese so durchbrechen! Oder wir könnten einen harten Gegenstand suchen und diesen ganz oft gegen die Wand schlagen! Überzeugt, dass eine ihrer Ideen funktionieren würde, stand Hoffnung auf und machte sich auf die Suche nach Wut. Aufgrund deren lauten Stimmorgans wurde sie bald fündig und erklärte ihr ihre Ideen und dass sie sich bitte Gehör verschaffen solle, um sie den anderen zu erläutern. Sie willigte überraschenderweise ein und brüllte los.
Die ersten Reaktionen waren niederschmetternd. Antworten wie «Nein, das klappt doch eh nicht!» oder «Spinnst du? Willst du uns alle umbringen?», musste Hoffnung ertragen. Doch nachdem Wut einen weiteren Anfall gehabt hatte, waren alle mucksmäuschenstill und erklärten sich bereit, ihr zu helfen. Zuerst versuchten sie, sich alle gleichzeitig gegen eine Wand zu werfen, welche jedoch keinen Millimeter nachgab. Die Enttäuschung ging durch die Runde und es begann ein neuer Streit, der sogar Hoffnung fast zur Verzweiflung brachte, aber nicht ganz. Sie zog sich wieder in eine Ecke zurück und vergrub ihren Kopf in der Ellbogenbeuge. Ich bin die Hoffnung, mir muss doch etwas einfallen! Die zweite Idee… Ein harter Gegenstand, ein Hammer oder so! Mit neuer Kraft stapfte Hoffnung entschlossen zur Wut, trennte diese von ihrem Streitpartner und bat sie abermals um Hilfe. Doch diesmal wurde sie enttäuscht: «Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde dir ein zweites Mal helfen? Vergiss es!» Hoffnung wollte sich gerade abwenden, als sie den glänzenden Gegenstand an Wuts Hüfte sah. Tatsächlich: Ein Hammer! Hoffnung jubelte, schnappte sich den Hammer und rannte weg. Zum Glück wurde Wut in diesem Moment gerade wieder abgelenkt und bemerkte das Fehlen des Hammers nicht.
Hopsend kehrte Hoffnung zu dem Ort ihres ersten Versuches zurück und stellte sich stabil hin. Zwei-, drei-, viermal schlug sie mit voller Wucht auf die Wand ein, doch nichts geschah. Wut kann das sicher besser! Sie flitzte zurück und zerrte Wut an die Stelle. Erst einmal musste sie ihre Ohren bedecken, da Wut gerade förmlich anschwoll. «WIE KANNST DU ES WAGEN, MEINEN HAMMER ZU KLAUEN?! DU BIST SO UNVERSCHÄMT, DU…!» «Beruhige dich! Vielleicht kommen wir ja gleich wieder raus, wenn du mir hilfst! Hier, schlag mit dem Hammer so fest, wie du kannst, gegen die Wand!» «Das ist das letzte Mal, dass ich dir helfe», sagte Wut drohend, bevor sie losschlug. Beim ersten Schlag erbebte der ganze Raum und beim zweiten wurden alle zu Boden gerissen. Doch Wut schlug weiter, als hinge ihr Leben davon ab. Als sie zwei Dutzend Mal zugeschlagen hatte, fiel auch sie vor Erschöpfung hin. Dies war das erste Mal seit ihrem Aufwachen, dass es bis auf die schnellen Atemzüge von Wut komplett leise war. «Dann lass uns nachschauen, ob du es geschafft hast», sagte Hoffnung und erhob sich. Sie fuhr mit der Hand über die betroffene Stelle. Alles, was sie fühlte, war gerade einmal eine winzige Beule. «Das kann doch nicht wahr sein!», rief sie verzweifelt. «Es muss doch einen Weg hinaus geben!» Sie fuhr sich durch die Haare und liess sich wieder auf den Boden fallen. Genau in diesem Moment begann das Geschnatter der anderen wieder und auch Wut gab ihre Meinung fauchend kund: «Ich habe es dir ja gleich gesagt, deine nutzlosen Einfälle bringen uns kein bisschen weiter!» Sie stapfte davon.
Hoffnung blieb sitzen und suchte wieder nach Kraft. Der Streit der anderen schwoll weiter an und so hielt sie sich die Ohren zu. Sie wollten doch alle wieder zurück in das Paradies, aus dem sie gekommen waren. Aber wie sollten sie das bloss anstellen? Sie hatten schon so viel ausprobiert. Tief in ihrem Inneren glomm noch immer ein Hoffnungsfunke, doch dieser musste sich erst noch einen Weg hinaus suchen.
Plötzlich rüttelte die Büchse, wie sie es noch nicht erlebt hatte. Alle wirbelten wild durcheinander und fingen an zu schreien, insbesondere Wut. Überall wurde Streit angefangen, einander die Schuld zugeschoben. Doch dadurch schien die Büchse nur noch stärker zu rütteln und die dicke Luft wurde fast greifbar. Auf einmal kam ein Licht in die Büchse, das so hell strahlte, wie die Sonne selbst. Etwas verdeckte die Sicht auf die Aussenwelt, etwas, das aussah wie eine mächtige Hand. Dann zwei riesengrosse, neugierige Augen. Sie waren so nah, dass man die einzelnen Wimpern erkennen konnte. Auf einen Schlag flogen alle Streithähne und Krankheiten nach draussen. Die Augen weiteten sich vor Schreck und die mächtige Hand zuckte so sehr, dass die Büchse wieder zuknallte. Im nächsten Moment war die Dunkelheit wieder da, nun gemeinsam mit unheimlicher Stille. Und Hoffnung … Hoffnung kauerte zitternd alleine in ihrer Ecke, noch zu erschüttert von dem Gedanken, nie wieder das Paradies erblicken zu können, als dass sie sich hätte bewegen können. Und als sie endlich vorwärtskam, war es schon lange zu spät. Rückblickend wunderte sich Hoffnung über ihre Erstarrung, wo sie doch sonst immer so aufgeweckt gewesen war. Doch gegen ihr Schicksal konnte sie selbst nichts ausrichten. Das hatte sie mittlerweile festgestellt.
So blieb Hoffnung mutterseelenallein in der leeren Büchse zurück, hoffnungsvoll, die anderen würden sie noch holen kommen. Und sie würde nie aufhören zu hoffen.

Von Kerstin Casper, G2E