2022, Aktuelles, Im Fokus, Nähe, Porträt, Sage & Schreibe Nr. 35

Die Kunst der Berührung

In vielen Sportarten, aber auch im künstlerischen Bereich ist der Körperkontakt als besondere Form von Nähe zentral. Haut, Schweiss, Atem – wie fühlt sich solch extreme Nähe an? Wir haben den mehrfachen Kickbox-Weltmeister Rocco Cipriano, den «eidgenössischen» Schwinger Nick Alpiger und die Tänzerin und Choreographin Brigitta Luisa Merki getroffen und nach ihren Erfahrungen gefragt.

Von Nick Häusler und Daut Limani, G19A

Im Schwingen ist die Berührung während des Kampfes permanent vorhanden. Damit kennt sich der erfolgreiche Aargauer Schwinger Nick Alpiger bestens aus. Das gegenseitige Berühren beginnt im Schwingen aber bekanntlich schon vor dem Kampf – beim Händedruck, der schon einige Informationen über den Gegner liefert. Nick Alpiger begegnet jedem Gegner gleich, wenn er auch seine Taktik am Schwingstil des Kontrahenten ausrichten muss. Oder an dessen Grösse. Die Nähe im Kampf setzt ziemlich viel Masse in Begegnung, da wirken grosse physikalische Kräfte. Die Verletzungsgefahr schwingt deshalb immer mit. In den Gedanken eines Schwingers darf sie aber keinen grossen Platz einnehmen, denn die Angst vor Verletzungen wirkt sich negativ auf den Kampf aus. Zögerlich angesetzte Schwünge, Passivität führen nie zum Erfolg. «Deshalb schwinge ich immer», sagt Nick Alpiger, «als ob es kein Morgen gäbe. Dabei blende ich alles aus, was nicht mit dem Kampf zu tun hat.»
Im Kontakt mit dem Gegenüber ist beim Schwingen nicht nur der eigentliche Kampf wichtig. Es geht auch um die kleinen Gesten. Der Händedruck nach dem Kampf etwa. Oder dass der Sieger das Sägemehl vom Rücken des Unterlegenen wischt. «Beides hat mit Anstand zu tun. Und mit Respekt vor dem Gegner», sagt Alpiger. Die intensive Nähe im Kampf und der respektvolle Umgang mit dem Gegner machen für Nick Alpiger die Faszination am Schwingsport aus. Und für ihn ist klar: «Wenn du mir das Schwingen nimmst, nimmst du mir einen Teil vom Leben.»

*1996. Kranzgewinn am Eidg. Schwingfest in Estavayer-le-Lac 2016, 7 Kranzfestsiege, darunter Sieg am Innerschweizer Schwingfest 2019, 10 Teilverbandskränze, 11 Bergkränze.


[Bild: zVg]

Berührung und Nähe sind auch im Tanz ein grosses Thema. Für die Tänzerin und Choreographin Brigitta Luisa Merki ist es eine Form der Kommunikation, ein Spiel mit Nähe und Distanz, eine Art des künstlerischen Ausdrucks, der viel mit dem Leben zu tun hat. Auch in ihrer Arbeit spielt der Körper die Hauptrolle. Sie sagt: «Im Tanz lernt man, wie man jemanden berührt, wie man jemanden anfasst.» Sie meint damit auch: Man lernt, wann man jemanden eben nicht berühren soll, im Tanz, aber auch im richtigen Leben.
Beim Erarbeiten einer Produktion proben die Tänzerinnen und Tänzer über mehrere Monate zusammen. Der künstlerischen Leiterin und Choreographin fällt dabei immer wieder auf, wie sehr eine Truppe in dieser Zeit zusammenwächst, wie die Tänzerinnen und Tänzer auch im Alltag eine Nähe zueinander entwickeln. «Dadurch wird Vertrauen aufgebaut», sagt Merki, «was notwendig ist, um gemeinsam tanzen zu können. Denn zusammen tanzen kann man nur, wenn es passt.»
Die Berührung gehört für Merki einfach dazu, auch im Alltag. Sie ist Teil ihrer Sprache. «Für mich war der Corona-Lockdown hart. Es fiel mir schwer, niemanden anfassen zu können. Körperkontakt ist etwas, ohne das wir Menschen nicht existieren können.» Deshalb wünscht sie sich, dass die Jungen sich mehr mit dem Tanz auseinandersetzen. «Im Tanz erleben sich Kinder ganz anders. Der Tanz gibt ihnen neue, andere Möglichkeiten des Ausdrucks und der Interaktion.» Und nicht zuletzt ist Tanz immer auch verbunden mit Freude, mit Spass, mit Leidenschaft. «Man ist Teil einer Gemeinschaft», sagt Brigitta Luisa Merki, «aber dennoch mit sich selbst beschäftigt.»

*1954. Gründerin und Leiterin der Tanzcompagnie Flamencos en route (1984-2020), seit 2007 künstlerische Leiterin Tanz und Kunst Königsfelden. Kulturpreis der AZ-Mediengruppe 1999. Hans-Reinhart-Ring (die bedeutendeste Auszeichnung im Theater- und Tanzschaffen der Schweiz) 2004. .


[Bild: Elin Cattaneo]

Für den Kickbox-Weltmeister bedeutet Nähe in erster Linie den direkten, harten Gegnerkontakt. «Berührung», sagt Rocco Cipriano, «Kontakt sei Dank!» Dieser Kontakt ist immer verbunden mit harten Treffern, denn ohne Fusskicks und Boxhiebe auf den Körper kann der Gegner nicht besiegt werden. Nicht selten gibt es blutige Verletzungen, die aber nicht automatisch zum Ende des Kampfes führen. Da spielen dann auch hygienische Aspekte eine Rolle.
Anders als etwa beim Schwingen, wo die beiden Kontrahenten «zusammengreifen» und danach in ständigem Kontakt bleiben, geht es beim Kickboxen um gezielte Angriffe auf den Körper des Gegners. Die Berührungen sind kurz, und Cipriano erlebt sie nicht bewusst als Nähe. «Die Berührung ist keine Nähe», sagt er, «sie ist ein Treffer.»
Im nichtprofessionellen Bereich hat Kickboxen auch mit Körperbeherrschung und Selbstverteidigung zu tun. Beides bringt Cipriano als Trainer vielen Kindern und Jugendlichen bei. Denn den Körper kennenlernen heisst auch, sich selbst kennenlernen. Gerade bei Jugendlichen ist das zentral.

*1968. Mentalcoach der Schweizerischen Junioren Nationalmannschaft und Sportchef des Schweizerischen Kickboxverbandes. Mehr als 20-facher Schweizermeister in verschiedenen Kampfsportdisziplinen. Mehrfacher Leichtgewicht-Weltmeister im Kickboxen.


[Bild: Daut Limani]