Aktuelles, Im Fokus, Interview, Nähe, Sage & Schreibe Nr. 35, Sage & Schreibe online!

«Die Schönheit der Polyamorie besteht in der grenzenlosen Liebe»

Mehrere romantische Beziehungen zur gleichen Zeit leben wird als Polyamorie bezeichnet. Genau in so einer Beziehung lebt der Schotte Orion Toivonen, welcher bereit war einige Fragen zur Polyamorie zu beantworten. Dabei werden Themen wie Nähe, Liebe oder Eifersucht in polyamorösen Beziehungen behandelt.

Von Valeria Tomassini und Paynavi Punithakumar, G19A

Eine ungewöhnliche Situation für ein Interview: Orion sitzt uns gegenüber, jedoch nicht an einem Tisch, sondern mehrere Kilometer entfernt, in Schottland. Über den Smartphonescreen sehen wir Orion in seinem Zimmer, seine Beziehungsperson Jose sitzt im Hintergrund und hört uns zu.

Orion, du bist momentan in nur einer Beziehung. Deine Beziehungsperson Jose hat aber selbst noch drei weitere Partner. Was bedeuten die Begriffe «Nähe», «Intimität» und «Liebe» für dich? Wie würdest du die Unterschiede beschreiben?
Orion: Ich glaube, Liebe ist etwas, das man bei jedem Menschen spüren kann: bei Freunden und in der Familie, vielleicht sogar bei einem Fremden, den man auf der Strasse trifft. Für mich ist es ein Gefühl der Wertschätzung. Nähe hingegen halte ich eher für etwas, das denjenigen Menschen vorbehalten ist, die mir am nächsten stehen. Dabei spüre ich die Nähe jedoch nicht nur für die Beziehungspersonen, mit denen ich eine Liebesbeziehung habe, sondern auch für Freunde und die Familie. Solche Nähe ist etwas Wertvolles und Einzigartiges, welches man nicht mit einer fremden Person auf der Strasse teilen könnte. Sie wird durch Vertrauen und manchmal bloss durch das Füreinander-Dasein aufgebaut. Intimität dagegen finde ich aus mehreren Gründen schwer zu definieren. Intimität ist etwas Einzigartiges. Etwas, das man nicht bei jeder nahestehenden Person spürt, sondern nur zu den Menschen, mit denen man eine besonders bedeutungsvolle Beziehung oder Freundschaft führt.
Die Schönheit der Polyamorie besteht in der grenzenlosen Liebe, darin, dass man die Liebe in vollen Zügen geniessen kann. Lasst mich das erklären: Ich kann von einer Person nicht alles bekommen, was ich suche, und gleichzeitig kann ich nicht alles sein, was eine Person sich wünscht. Mit verschiedenen Partnern gibt es dieses Problem nicht mehr. Man ist immer auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden und damit wird die Intimität zwischen allen Beziehungen auch eine andere sein. Das macht die Definition von Intimität schwierig. Was ebenfalls zur Definition beiträgt, sind die verschiedenen love languages*, die es gibt. Die Tatsache, dass Menschen unterschiedliche love languages ‹sprechen›, trägt stark zur geteilten Intimität bei. Wenn jemand zum Beispiel eine andere love language hat als seine Beziehungsperson, kann das zu Schwierigkeiten führen. Und damit wird die Intimität, die man mit dieser Person teilt, beeinträchtigt.

*love language:«Liebessprache». Beschreibt die Art und Weise, wie eine Person in einer Liebesbeziehung Liebe empfängt und ausdrückt. Dabei unterscheidet man allgemein 5 Gruppen: Worte der Anerkennung und des Lobes, Geschenke, Hilfsbereitschaft und Taten, gemeinsame Zeit und Zärtlichkeit.

Was sind die Herausforderungen in einer polyamoröseren Beziehung? Spielt Eifersucht eine grosse Rolle?
Kommunikation! Kommunikation ist definitiv eine der Herausforderungen der Polyamorie! Wenn man nicht offen mit seiner Beziehungsperson kommunizieren kann, dann wird es in der Beziehung viele Höhen und Tiefen geben. Ich würde sagen, dass Kommunikation, aber auch das Akzeptieren von Gefühlen das Wichtigste ist.
Eifersucht ist und wird immer präsent sein. Und das ist völlig normal, man sollte sich deswegen nicht niedermachen. Als meine Beziehungsperson zu Beginn unserer Beziehung mit anderen auf Dates ging, war das für mich ziemlich schwierig und ungewohnt. Also haben wir uns zusammengesetzt und über unsere Gefühle gesprochen. Dabei haben wir eingeführt, dass wir uns jedes Mal, nachdem einer von uns auf einem Date war, so schnell wie möglich treffen, um auf den neusten Stand zu kommen.

Kann Nähe in einer Beziehung geteilt werden? Und wenn ja, fühlst du dich einem deiner Partner näher als dem/den anderen?
Jose hörte uns anfangs nur halbwegs zu, doch jetzt ist er plötzlich ganz Ohr. Da Orion momentan nur eine Beziehungsperson hat, ist diese Frage passender für Jose. Orion gibt das Smartphone weiter an Jose. Somit beginnt Jose, uns von der Vielfalt der Nähe in mehreren Beziehungen zu erzählen.

Jose: Meine Partnerin Jaana ist ganz anders als Orion. Jaana selbst hat weitere drei Partner. Unsere Beziehung ist so, als wären wir Freunde, die viel füreinander empfinden. Man könnte sagen, dass es fast schon auf eine liebevolle Art und Weise platonisch ist. Ich empfinde für meine beiden Partner die gleiche Liebe, auch wenn sie sehr unterschiedlich ist. Es ist, als wäre es eine andere Art von Nähe, die ich mit ihnen teile. Mit Orion lebe ich so gut wie zusammen, daher teilen wir sehr viele Sachen, insbesondere intime Dinge. Ich würde sagen, dass mir Orion genau gleich nahe steht wie Jaana. Unterschiedlich ist nur, dass ich mit ihr weniger Zeit verbringe. Aber bei beiden Partnern weiss ich, dass wir im Notfall alles stehen und liegen lassen würden, um zu helfen.

Sprachlicher Umgang mit non-binären Menschen
Orions Beziehungsperson, Jose, ist non-binär. Non-Binärität ist eine Geschlechtsidentität, welche Menschen tragen, die sich nicht als männlich oder weiblich identifizieren. Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff, welcher in weitere Unterkategorien wie genderfluid, agender und polygender unterteilt werden kann.
Genderfluid bezeichnet eine Person, die ihr soziales Geschlecht über die Zeit immer wieder ändert. Hingegen fühlen sich Personen, welche agender sind, zu keinem Geschlecht zugehörig. Das komplette Gegenteil dazu ist polygender, hier fühlt man sich mehreren Geschlechtern zugehörig. Die hier genannten sind nur wenige der verschiedenen Geschlechtsidentitäten, die unter den Begriff non-binär fallen.
In der deutschen Sprache ist es sehr schwierig, über solche Personen zu schreiben. Schon nur bei den Pronomen drängt man sie mit «er» oder «sie» direkt in eine Geschlechtsidentität. Obwohl die Sprache etwas ist, das sich immer weiterentwickelt, gibt es für non-binäre Menschen noch keine wirkliche Schreibweise. Genau dies stellten wir auch beim Schreiben von «The Beauty of Polyamory is Loving Limitlessly» fest.
Eine bekannte Möglichkeit, bei deutschsprachigen Texten non-binäre Personen einzubeziehen, ist das typografische Mittel des Gendersterns. Dabei wird die männliche Form eines Wortes mit der weiblichen kombiniert und dazwischen der Genderstern gesetzt (z.B. Partner*in). Der Stern steht für alle anderen Geschlechteridentitäten.
Da der Genderstern noch sehr kontrovers diskutiert wird, wird er in den meisten Printmedien nicht oder nicht konsequent verwendet. Im Aargau beispielsweise ist es kantonalen Institutionen nicht erlaubt, den Genderstern in ihren Publikationen zu verwenden, da sich der Kanton an die Weisungen der Schweizerischen Bundeskanzlei hält.
Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, non-binäre Menschen anzusprechen. Einige wollen, dass man sie nur mit ihrem Namen anspricht, andere wollen anstatt «er» oder «sie» mit «sier» angesprochen werden. Jedoch ist auch dies in der deutschen Sprache noch nicht geläufig. Im Vergleich dazu wird im Englischen das Pronomen «they» für non-binäre Menschen schon sehr oft genutzt.
Damit wir Jose in unserem Artikel gendergerecht ansprechen, haben wir geschlechtsneutrale Begriffe wie «Beziehungsperson» genutzt.
Wer unsicher ist, wie eine non-binäre Person anzusprechen ist, fragt am besten direkt bei ihr nach, wie sie am liebsten angesprochen wird. Oft wird heutzutage die Anrede auch direkt ins Social-Media-Profil geschrieben, oder die non-binären Menschen sagen schon beim Vorstellen, wie sie gerne angesprochen werden.
Uns ist es wichtig, dass non-binäre Menschen in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft normalisiert werden. Wir hoffen, mit diesen Ergänzungen das Themenfeld der Non-Binarität etwas verständlicher gemacht und näher gebracht zu haben, damit auch Sie in Zukunft zu einer Veränderung beitragen können.


[Bild: zVg]