Die Schlange vor dem Lift ist lang, nur noch wenige Minuten bis Unterrichtsbeginn. Die Tür geht auf, und wieder schaffe ich es nicht in den Lift, werde langsam nervös. Ich habe keine andere Wahl – zu Fuss in den fünften Stock. Im Schulzimmer angekommen, mit Schweissflecken und schwer atmend, stelle ich fest: Die einzigen noch freien Plätze sind in der vordersten Reihe. Ohne jede Ahnung vom Thema und ohne die Hausaufgaben gemacht zu haben, greife ich auf meine bewährte Strategie zurück. Schon seit Jahren wende ich sie in solchen Situationen an. Dem Lehrer immer in die Augen schauen, an den richtigen Stellen interessiert nicken und bei rhetorischen Fragen nachdenklich die Augenbrauen hochziehen. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dem Lehrer nie zu lange in die Augen zu schauen, den Blick aber trotzdem nicht zu früh abzuwenden und dabei noch völlig entspannt auszusehen. Auch heute eine Frage zu den Hausaufgaben: Wer muss seine Antwort vortragen? Ich halte mich an meine Strategie, nicken, Augenbrauen hochziehen und, ganz wichtig, die richtige Länge an Blickkontakt. Der Blick des Lehrers schweift durch die Reihen und – bleibt an mir hängen. Da weiss ich, es ist vorbei.
Von Olivia Studer, G3G