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Die vielen Gesichter von Stress 

Stress ist ein Alltagsphänomen, das meist als etwas Negatives empfunden wird. Allerdings ist Stress ein normaler und unvermeidbarer Teil unseres Lebens – und erstaunlicherweise durchaus notwendig für unser Wohlbefinden. Dies behauptet PD Dr. med. Joram Ronel, Leiter des Departements für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Klinik Barmelweid. Wir haben ihn zum Gespräch getroffen.

Von Jessica Berger, Erza Gashi und Jessica Pinto Guerreiro, G21K

Sage&schreibe: Aus welchen Gründen sind Patient/-innen bei Ihnen in der Klinik?
PD Dr. med. Joram Ronel: Wir nehmen Menschen mit einer Vielzahl psychosomatischer und psychischer Störungen auf. Manche von Ihnen fallen durch die Maschen des Versorgungssystems und finden keinen Therapieplatz. Zum Beispiel gibt es Menschen, die unter körperlichen Beschwerden leiden, für die sich keine eindeutige Ursache finden lässt, da diese Beschwerden nicht somatisch (also körperlich) diagnostizierbar sind. Diese Personen gehen von der einen ärztlichen Konsultation zur nächsten, was nicht nur belastend für sie ist, sondern auch das Gesundheitssystem erheblich beansprucht. Unsere Aufgabe hier ist es, für diese Menschen eine passende Behandlung zu finden.

Was ist Stress eigentlich?
Umgangssprachlich meint Stress oft, dass einen etwas belastet – man fühlt sich innerlich angespannt und hat meist ein negatives Empfinden. Niemand hat noch nie Stress erlebt. Und das hat auch Vorteile: Babys, die in reizarmen Umgebungen aufwachsen, sind nicht widerstandsfähiger oder gesünder, sondern können in ihrem späteren Leben auch problematische Störungen entwickeln. Umgangssprachlicher Stress ist also ein natürlicher Bestandteil unseres Lebens.

Stress hilft uns also zu überleben?
Durchaus. Die biologische Erklärung für Stress ist, dass im vegetativen Nervensystem der Sympathikus aktiviert wird, damit der Mensch in Gefahrensituationen handlungsfähig ist. Stress ist entwicklungsbiologisch gesehen tatsächlich eine Reaktion, die wir fürs Überleben brauchen.

Dann gibt es aber noch den chronischen Stress. Dabei kann es sich beispielsweise um eine chronische Depression oder eine chronische Angstproblematik handeln. Depressionen können wir häufig am Verhalten erkennen. Die betroffene Person steht nicht auf, hat keine Energie und kümmert sich nicht um die eigene Gesundheit. Interessant ist dabei, was auf der biologischen Ebene passiert. Menschen, die an chronischen Depressionen leiden, haben beispielsweise eine veränderte Blutgerinnung. Das heisst, die Funktion der Blutplättchen wird schlechter, was zu Verklumpungen innerhalb der Gefässe führen kann. Dies kann insbesondere für Herzinfarktpatient/-innen lebensbedrohlich sein. Von chronischem Stress kann zudem auch das ganze Immunsystem betroffen sein, wodurch die Abwehrfunktionen des Körpers geschwächt sind. Akuter Stress und chronischer Stress unterscheiden sich also grundlegend.

Stress wird oft als etwas Negatives wahrgenommen, warum eigentlich?
Weil wir vielleicht davon ausgehen, dass unser Leben einfach so dahinplätschert, also möglichst gleichförmig verlaufen sollte. Unvorhergesehenes gefährdet dieses Konzept. Wichtig ist, über das, was uns belastet oder eben stresst, zu reden. Ein solcher Austausch ist ein urmenschliches Anliegen. Dabei stehen zentrale Fragen im Raum: Wie definieren wir unser Leben? Erhoffen wir uns ein reizfreies Leben, oder soll es bunt sein, mit Höhen und Tiefen? Was, wenn wir uns verlieben? Das kann ja durchaus grossen Stress verursachen. Soll man der Liebe deshalb aus dem Weg gehen? Oder akzeptiert man das Risiko, zurückgewiesen und verletzt zu werden? Ich meine, wir sollten nicht versuchen, ein möglichst reizfreies Leben ohne akuten Stress zu führen. Denn der gehört zum Leben dazu, und die Natur stellt uns ja auch Werkzeuge zur Verfügung, damit umzugehen. Zu uns Menschen gehört nun mal die ganze Palette von Erfahrungen und Emotionen. Der Umgang mit akutem Stress macht uns resilient und verringert die Gefahr, in den Teufelskreis von chronischem Gestresst sein zu geraten.

Bild: zVg