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«Die Zeit hat für mich jetzt einen anderen Wert»

Sandresegarem Tharmachandran ist 73 Jahre alt und bereiste dank seiner Arbeit auf Frachtschiffen Länder wie Brasilien, Japan, Amerika, Kanada, Saudi-Arabien und viele weitere. Er flüchtete wegen des Bürgerkriegs aus Sri Lanka und lebt heute in der Schweiz. – Ein Porträt über einen Menschen mit einer besonderen Beziehung zur Zeit.

Von Abirahm Vasanthakumar, G20F

Ich sitze bei Sandresegarem Tharmachandran in Hausen AG im Wohnzimmer. Es schneit draussen, und wir halten uns mit einer Tasse Tee warm. Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, sein Blick ist zufrieden. Man merkt ihm nicht an, was er alles schon erlebt hat. Er scheint mit sich im Reinen.


[ Bild: Abirahm Vasanthakumar]

Lehrjahre
Aufgewachsen ist er in Trincomalee in Sri Lanka. Seine Jugend war geprägt von Arbeit und Lernen. In der Schule belegte er neben seiner Muttersprache Tamilisch auch noch Englisch, was ihm später den Weg in die weite Welt öffnete. Zudem betrieb er sehr viel Sport. Nach der Hauptschule besuchte er das amerikanische College in Trincomalee und schloss danach eine Mechanikerausbildung ab.
Im Alter von zwanzig Jahren begann er, auf grossen Frachtschiffen auf der ganzen Welt zu arbeiten, weit weg von seiner Familie in Sri Lanka. Er erzählt mir, dass seine Arbeit auch deshalb anstrengend und speziell war, weil er immer wieder durch verschiedene Zeitzonen reisen musste.
Mit neunundzwanzig kehrte er zurück nach Sri Lanka. Einerseits hatten ihn seine Eltern zurückgerufen, andererseits hatte ihn zunehmend das Heimweh geplagt, denn in all den Jahren hatte er seine Heimat nur zweimal kurz besuchen können. Mit dem Geld, das er während seiner Arbeit auf See erspart hatte, machte er in Sri Lanka einen grossen Lebensmittelladen auf und lernte zu dieser Zeit auch seine grosse Liebe kennen. – Doch diese schöne Zeit hielt nicht lange an, denn in Sri Lanka brach der Bürgerkrieg aus. Durch den Krieg verlor er seinen Laden und all sein Hab und Gut. Er floh in die Schweiz, wo schon sein Schwager Zuflucht gefunden hatte. Hier lebte er anfangs in einem Asylzentrum mit seiner Frau und seinem Sohn, der bald noch zwei Geschwister bekommen sollte. Sandresegarem Tharmachandran fand eine Anstellung in einer Bäckerei.

Das tamilische Zeitgefühl
Ich frage ihn, wie er die kulturelle Umstellung geschafft habe. «Einfach war es nicht», sagt er und schmunzelt. «Vor allem wegen der Zeit. In der Schweiz ist Pünktlichkeit oberstes Gebot. In Sri Lanka hingegen gibt es gar keine richtige Zeit.» Man sei flexibel und frei. In der Schweiz hingegen herrsche eine feste, von der Zeit dominierte Ordnung. Das sei ein grosser Unterschied zu Asien. «Ich sage nicht, dass es schlecht ist hier», schiebt er nach, «im Gegenteil, ich finde, es braucht eine Ordnung, und Ordnung ohne Zeit gibt es nicht.»

Der Schicksalsschlag
Und dann kam ein Schicksalsschlag, der das Leben von Sandresegarem Tharmachandran in ein Davor und ein Danach teilte. In seinem Kopf wurde ein Tumor diagnostiziert. Bei einem Besuch bei seinem Schwager griff der Tumor an, Sandresegarem Tharmachandran bekam rasende Kopfschmerzen, verlor das Bewusstsein. Fast vier Monate war er danach im Krankenhaus, musste starke Medikamente nehmen. In dieser Zeit kämpfte er nicht nur gegen den Tumor, sondern auch gegen die Langeweile. «Ich kann doch nicht stillsitzen. Ich muss aktiv sein», sagt er und fuchtelt mit den Händen. Routine. Das Wort fällt immer wieder. Denn im Krankenhaus läuft die Zeit anders. Langsamer als draussen. Streng getaktet. «Behandlungen, Essen, Medikamente, Schlaf», sagt er, «mein Leben verlief nach einem monotonen, eintönigen, strengen Zeitplan.» Dann stelle ich die Frage nach dem Tod. Er nimmt einen Schluck Tee, überlegt lange. «Die Ärzte hatten mir eine gute Prognose gestellt. Aber die Ungewissheit war trotzdem da. Die Krankheit war ein tiefer Einschnitt», sagt er. «Die Zeit hat für mich jetzt einen anderen Wert. Ich erlebe alles bewusster, ich geniesse – vor allem meine Enkelkinder. Denn man weiss nicht, wie viel Zeit einem zum Geniessen noch bleibt.»

Er schaut mich an, und etwas blitzt in seinen Augen. Dann lächelt er. Einer, der gelernt hat zu geniessen. «Und jetzt sollte ich noch eine Runde joggen», sagt er und stellt die Tasse auf den Tisch.