2020, Alte Kanti, Menschen, Sage & Schreibe Nr. 31, Verabschiedung

«Eine Schule wie vor 25 Jahren – das wäre heute undenkbar»

Zur Pensionierung von Rektor Martin Burkard

Martin Burkard verlässt die Alte Kanti. Nicht weniger als 36 Jahre hat er an der ältesten Kantonsschule der Schweiz gewirkt, anfangs als Lehrer für Deutsch und Latein, während der letzten 22 Jahre hat er die Geschicke der Schule geleitet. Mit Martin Burkards Pensionierung geht eine Ära zu Ende. Versuch einer Bilanz im Gespräch.

Irgendwie aufgeräumt sieht er aus, wie er zum Interviewtermin im lauschigen Kantipark erscheint. Der offene, wache Blick, das spitzbübische Lächeln, die dynamisch gestikulierenden Hände, die schon bei der Begrüssung mitreden, als sprächen sie eine eigene Sprache – wahrlich, alt ist er nicht geworden an der Schule. In ein paar Stunden werde man ihm im Büro «den Stecker ziehen», sagt er, noch leicht ausser Atem und gewissermassen zur Einleitung; er tut es mit so viel Schalk in den Augen, dass unmittelbar klar wird: Um diesen Mann braucht man sich keine Sorgen zu machen, sein Kräftehaushalt ist nicht abhängig von der kantonalen Energiezufuhr, auch nicht nach 22 Jahren Rektorat. So lässt sich zweifellos leichter, unbeschwerter zurückblicken auf bedeutende bildungspolitische und schulinterne Entwicklungen während seiner Amtszeit.


[Bild: Sarah Böhler]

Ein Meilenstein war zweifellos das Maturitätsanerkennungsreglement (MAR), das Martin Burkard ab 1995 mit Edgar Knecht, dem damaligen Rektor der Kantonsschule Baden, entwickelt hat. Einheitsmatur mit unterschiedlichen Vertiefungsmöglichkeiten statt Typenmatur, neue Fächer und Lehrpläne. Eine wegweisende Schulreform, die die Gymnasien noch heute prägt. Burkard erzählt leidenschaftlich, stets darauf bedacht, die eigene Konzept-Leistung nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Nur wenn er von den Widerständen der selbstgerechten, rückwärtsgewandten Bildungsbürger und Traditionalisten erzählt, schwingt so etwas wie Stolz mit. Stolz darüber, dass es damals gelang, die Reformen durchzusetzen. «Das Festhalten am Bestehenden», sagt er, «Angst und Abwehr – das hat mir das Leben immer wieder enorm schwergemacht.» Mut, Offenheit und Neugier seien da die besseren Ratgeber. So habe die MAR-Arbeitsgruppe schon 1995 die Idee für schulische Globalbudgets und für einen Stundenpool formuliert. Was heute eine von allen geschätzte Selbstverständlichkeit sei, habe aber bis zu seiner Umsetzung unglaublich viel Energie, Überzeugungsarbeit und Zeit gebraucht. Gleiches zeige sich rückblickend auch im Zusammenhang mit dem bei der Einführung 2005 nicht unumstrittenen Gesetz über die Anstellung von Lehrpersonen (GAL). Lehrpersonen im Beamtenstatus oder ein hierarchisch strukturiertes Kollegium – das könne sich heute doch keiner mehr vorstellen.
Dann ist die Schule also eine bessere als früher – allen Nörglern zum Trotz? Die Frage ist weniger provokativ, als es scheinen mag. Allein die Stundentafeln zeigen im Vergleich eine sehr viel breitere Angebotspalette an fachlichen Vertiefungsmöglichkeiten, Freifächern oder Spezialschulwochen. Martin Burkard überlegt lange, dann sagt er: «Ich glaube tatsächlich, vieles an der Schule heute ist besser als vor 25 Jahren. Das hat auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Eltern und Schüler haben andere Erwartungen, technologische Neuerungen eröffnen andere Möglichkeiten, Frauen im Bildungssektor haben heute glücklicherweise einen ganz anderen Stellenwert. Deshalb müsste man vielleicht sagen: Die Schule heute ist besser, weil sie in wichtigen Bereichen eine andere Schule geworden ist.»
Das klingt, als sei Anpassung ein Qualitätsmerkmal. Dabei liesse sich doch mit demselben Recht sagen, Schule sollte auch widerständlerisch sein, anecken, sich gesellschaftlichen Trends entgegenstellen, Bewährtes bewahren. Klagen, wonach sich (auch) der gymnasiale Bildungsanspruch, dem gesellschaftlichen Diktat gehorchend, zunehmend nach unten nivelliere, sind jedenfalls seit längerer Zeit unüberhörbar. – Martin Burkard will nicht missverstanden werden. Keinesfalls, präzisiert er, dürfe die Schule anpasserisch sein, im Gegenteil. Er beugt sich vor, lässt die Hände mitreden: «Veränderungen Rechnung tragen heisst im besten Fall, innovativ damit umgehen. Innovation ist die intelligenteste und kreativste Art der Anpassung.» Ein schöner Satz, und Martin Burkard begreift sofort, dass er sich an dieser Aussage messen lassen muss. Aber er scheint nur darauf gewartet zu haben, denn auf die Frage nach echter Innovation an der Alten Kanti kommt er so richtig in Fahrt. Wieder erwähnt er die Umsetzung des MAR. «Sehr mutig», sagt er. «Auch die Entwicklung der Spezialabteilung NAWIMAT für vorwiegend naturwissenschaftlich interessierte Schülerinnen und Schüler; das Konzept wurde inzwischen von zahlreichen anderen Schulen übernommen. Oder das Wahlfachsystem im Sport für die 3. und 4. Abteilungen. Oder in der Musik; da haben wir in den letzten Jahren die inhaltliche Öffnung hin zu nicht-klassischen Richtungen vorangetrieben und auch Angebote im Bereich der elektronischen Musik geschaffen. Mittlerweile gibt es bei uns sogar ein Soundlab mit verschiedenen Musiknotationsprogrammen. Zu erwähnen sind auch die Zertifikatskurse in den Fremdsprachen; Shakespeare, Molière, Pirandello und Co. in Ehren, aber die Jungen von heute sollen sich ja auch zeitgemäss ausdrücken können. – Das sind alles Innovationen, die wir gegen erhebliche Widerstände aus dem klassischen Bildungsbürgertum durchgesetzt haben, zum Gewinn der Schule, meine ich.» Burkard lehnt sich zurück, um sogleich wieder hochzuschnellen und zu ergänzen: «Den ganzen Bereich spezieller Unterricht natürlich, den muss man auch erwähnen. Da gibt es die Schwerpunktfachwochen zum Beispiel. Und den Landdienst haben wir abgeschafft. Einfach war es nicht, diesen alten Zopf abzuschneiden. Aber wir haben für innovativen Ersatz gesorgt.»
Bei so viel Entwicklung liegt es auf der Hand, dass es auch Kollateralschäden gibt. Dass von der Innovation weggespült wird, was aus gutem Grund nicht weggespült werden sollte. Etwa im Bereich der Schulorganisation. Früher waren die Wege kurz, Regelungen und Absprachen wurden unkompliziert getroffen. Heute gibt es es für alles und jedes Formulare – auf Papier oder online. Nicht allen fällt es leicht, im bürokratischen Dschungel die Übersicht zu bewahren. Martin Burkard lässt den Einwand nur bedingt gelten. Er räumt ein, dass der administrative Aufwand für alle Beteiligten zugenommen hat, streicht in Anbetracht der komplexen schulischen Strukturen aber auch dessen Notwendigkeit heraus. Und weist mit Nachdruck darauf hin, dass wesentliche schulorganisatorische Veränderungen schlicht der veränderten gesellschaftlichen Realität geschuldet waren. «Wenn immer mehr Lehrkräfte Teilpensen unterrichten, lassen sich einfach nicht mehr alle über einen Leisten schlagen. Führt einer mit 5 Wochenlektionen eine Abteilungswoche durch, ist es nicht dasselbe, wie wenn es eine mit einem Vollpensum tut. Gerade hier zeigt sich: Mehr Administration kann auch für mehr Gerechtigkeit sorgen. Das ist uns mit dem Modell der Selbstdeklaration von Arbeitszeit gelungen, das ein Zusatzengagement von Lehrpersonen nicht nur sichtbar macht, sondern auch fair honoriert.»
Dank der tollen Entwicklung der Gesellschaft, die in den letzten 25 Jahren die Schule immer wieder dazu gezwungen hat, dieser Entwicklung mit Innovation und Kreativität zu begegnen, haben wir heute also eine so tolle Schule. Grossartig. Und wie erklären sich die immer lauter werdenden Klagen der Hochschulen, die Maturandinnen und Maturanden seien insbesondere mit Blick auf die sogenannten basalen Kompetenzen unzureichend für das Studium gerüstet? Martin Burkard ist nicht aus der Reserve zu locken – weder mit der Zuspitzung noch mit dem Verweis auf die mangelnde Studiertauglichkeit. Schule, führt er aus, sei nicht einfach ein Abbild der Gesellschaft, sondern Ausdruck von gesellschaftlichen Prozessen. Da gebe es naturgemäss Reibungsflächen, Konfliktpotenzial. Er erwähnt die immer wieder feststellbare Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung der Eltern und Konsummentalität der Schülerinnen und Schüler. Die Schule als Institution habe darauf keine Antwort. Wohl aber, und davon ist er auch nach 36 Jahren an der Alten Kanti überzeugt, ein Deutschlehrer, der die Freude an der Literatur vermitteln könne, eine Bilogielehrerin, welche die Faszination für Genetik weitergeben könne. «Es sind immer noch die Lehrpersonen, die Schule machen. Und da sind wir gut aufgestellt. Auch deshalb nehme ich die Klagen der Unis gelassen: Die Realität beweist ja, dass die allermeisten Maturandinnen und Maturanden erfolgreiche Wege durchs Berufsleben finden. – Fakt ist: Eine Schule wie vor 25 Jahren – das wäre heute undenkbar. Und insgesamt, meine ich, hat die Schule, insbesondere auch die Alte Kanti, sehr gut auf die verschiedenen gesellschaftlichen Herausforderungen reagiert.»
Eine dieser Herausforderungen ist zweifellos die Digitalisierung. Mit der Entfernung aller fest installierten Computer aus den Unterrichtszimmern und der gleichzeitigen Einführung von «Bring Your Own Device» (BYOD) hat sich Martin Burkard nicht nur Freunde gemacht. «Stimmt. Aber da waren wir konsequent. Wieso sehr viel Geld in technologische Nachrüstung investieren, wenn die gesellschaftliche Realität längst eine andere ist? Vielleicht kann man sogar sagen, dass der Fernunterricht während des Lockdowns auch deshalb so gut funktioniert hat, weil Lehrpersonen wie Schülerinnen und Schüler seit der Einführung von BYOD verpflichtet sind, sich mit eigenen Computern herumzuschlagen.» Überhaupt mag er die Digitalisierung nicht überbewerten. Kein einziges Schulhaus werde der Digitalisierung wegen abgerissen werden. Häuser der Begegnung und des schulischen Lernens werde es immer geben. Ebenso wie es immer Bücher geben werde; ob sie als E-Reader oder in gedruckter Form gelesen würden, sei letztlich unerheblich. «Der Computer», sagt er bestimmt, «wird für die Schule nie mehr sein als eine Unterstützung des Unterrichts.»
Die Mitarbeiterin des Hausdienstes macht uns freundlich, aber bestimmt darauf aufmerksam, dass der Tisch, an dem wir sitzen, so wie alle anderen weggeräumt werden muss. Weit wird der Blick in die Zukunft also nicht führen. Aber die Frage muss sein: Wie sieht denn eine Schule, die schon jetzt vieles richtig macht, in der Zukunft aus? Martin Burkard denkt nicht lange nach. «Die aktuelle Schule ist sehr nah bei der Schule, wie ich sie mir für die Zukunft wünsche. Der Lehrplan bietet den Lehrpersonen viele Freiheiten, die Schülerinnen und Schüler haben nach vier Jahren das im Rucksack, was sie für die Zukunft brauchen. Wenn wir das Gemeinschaftliche, die Begegnungen weiter pflegen und uns nicht hinter den Bildschirm des Computers zurückziehen, wenn wir uns dazu zwingen, auf Herausforderungen nicht mit Angst und Abwehr, sondern mit Offenheit zu reagieren, dann mache ich mir um das Gymnasium von morgen keine Sorgen. Aber – wenn es etwas gibt, von dem ich mir mehr wünsche, dann ist das Mut. Der Mut, Neues wenigstens zu denken!»
Nicht ohne Respekt schauen wir für einen Moment der Mitarbeiterin des Hausdientes zu, die in vorfeierabendlicher Entschlossenheit unseren Metalltisch zusammmenklappt, zu den andern stellt und mit einem Stahlseil festzurrt. Die letzte Frage, bevor er gegangen sein wird, der Rektor, dem sie in ein paar Stunden den Stecker ziehen. Wo war eigentlich der Mensch Martin Burkard all die Jahre? «Ich habe die Freude an meinem Camus und an meinem Dürrenmatt nie verloren», sagt er und strahlt. «Und ich hatte das grosse Glück, dass ich am Ende eines Arbeitstages immer abschalten konnte, mich erholen, vor allem in der Familie, mit Kollegen oder beim Sport. Ja, ich hatte immer ein reichhaltiges, interessantes Privatleben. Ich glaube, ich konnte ganz gut die Grenzen ziehen zwischen Privatleben und Beruf. Und vor allem: Ich habe nie der Schule meine Seele verkauft.»
Sagt er und geht ein letztes Mal ins Büro. Irgendwie aufgeräumt.

Von Andreas Neeser, Redaktionsleitung sage&schreibe