Interview, Kultur, Sage & Schreibe Nr. 19, Vom Wandel(n) der Musen

„Einen breiten Horizont mit auf den Weg geben“

Michael Schneider, ehemaliger Schüler der Alten Kantonsschule Aarau und heute Leiter des Künstlerhauses Boswil, erinnert sich und schlägt einen Bogen von gestern zu heute.


[Bild: Florian Sommer]

Was ist Ihre schrecklichste Erinnerung an Ihre Schulzeit an der Alten Kanti Aarau?
Michael Schneider: Zweifellos eine katastrophale Mathematik-Lehrerin! Sie hatte eine Aversion gegen sämtliche Knaben und wir gingen jeweils schon mit weichen Knien in den Unterricht. Gott sei Dank verliess sie uns im Laufe der Kantizeit, sonst würde ich heute hier eventuell gar kein Interview geben können als ehemaliger Schüler der Alten Kanti!

Abgesehen vom Normalprogramm: Waren die Stunden der Freifächer, die Sie zusätzlich besucht haben, für Sie und Ihre Eltern kostenlos?
Ja, es war spektakulär, dass wir diese wichtigen Inputs gratis erhielten! Erst dies hat nicht nur mir, sondern auch vielen anderen diesen Kursbesuch überhaupt ermöglicht und uns enorm weitergebracht.

Verfolgten Sie neben der Musik noch andere Interessen während Ihrer Schulzeit an der Kanti? Besuchten Sie noch weitere Freifächer?
Verglichen mit heute scheint mir das damalige Angebot geradezu bescheiden. Unter den Freifächern habe ich das kleine Latinum absolviert. Ein besonderes Highlight waren aber die freiwilligen Angebote im Musikhaus: abendliche Analysen und zusätzlicher Cembalo- und Ensembleunterricht.

Sie besuchten den Musikunterricht bei János Tamás, wie wichtig war er für Ihre Kariere als Komponist?
Nachdem ich beim Wettbewerb zum Aarauer Jugendpreis ein Musikstück eingereicht hatte, wechselte ich auf die zweite Kanti hin zu Tamás als Klavierlehrer. Wir vereinbarten, dass wir ab und zu eine Kompositionsstunde abhielten, das heisst, wenn ich am Komponieren war, konnte ich diese Skizzen mitbringen und wir besprachen sie. Diese musikalische Förderung war enorm wichtig für mich und half mir bis zum Ende der Kantizeit dabei, formal und stilistisch meine kompositorischen Gedanken zu fokussieren. Mich und seine anderen Schüler hat Tamás aber über die Musik hinaus durch seine grosse Sensibilität und Menschlichkeit geprägt – in den Klavierstunden war nicht nur das Klavierspiel ein Thema, sondern die ganze Welt!

Hielten Sie den Kontakt nach der Kantizeit aufrecht?
Ja, wir blieben sehr freundschaftlich verbunden. Ich habe verschiedene Texte über Tamás publiziert und nach seinem Suizid 1995 den „Förderverein János Tamás“ initiiert.

Was hat dieser „Förderverein János Tamás“ zum Ziel?
Promotion! Die Musik bekannt machen und wenn möglich spielen lassen! Das Wissen über den Komponisten verbreiten; Noten, Bücher und CDs initiieren …

Wollten Sie schon immer Komponist werden? Wie haben Ihre Eltern reagiert, als Sie als Schüler anfingen zu komponieren?
Ich habe etwa mit 14 Jahren begonnen, zu komponieren, zunächst ganz viele Popsongs – das war aber, auch während der Kantizeit, eher wie ein privates Tagebuch. Zuhause wussten zwar alle, dass ich mir an der Gitarre wieder einen neuen Song ausdachte, aber Text und Musik behielt ich für mich. Erst im Laufe der Kanti habe ich dann mehr auch „klassisch“ zu komponieren versucht. Die ersten Stücke, die ich heute noch gelten lasse, stammen dann aber erst von 1991, als ich 27 und mit dem Musikwissenschafts-Studium schon fast fertig war und auch noch für drei Jahre am Konservatorium Bern war. Überhaupt ist ja „Komponist“ nicht wirklich mein Beruf – es ist mir zwar zutiefst ein Bedürfnis, regelmässig zu komponieren, aber für den finanziellen Lebenserwerb so gut wie nutzlos, weshalb ich seit zwanzig Jahren – auch mit Leidenschaft – im Kulturmanagement tätig bin.

Haben Sie eine bestimmte Muse oder woher holen Sie die Inspiration für das Komponieren von neuen Stücken?
Ich schreibe vor allem auf Aufträge respektive auf Anfragen bestimmter Musiker, so dass Besetzung, Länge und Kontext eines Stückes meist schon gegeben sind. Die Musik selber erfindet sich dann in diesem Rahmen, wobei für mich meist aussermusikalische Bezüge, Inhalte und Texte eine Rolle spielen. 2011, zum Beispiel, haben mich die Bläsersolisten Aargau gebeten, ein grösseres Ensemblestück zu schreiben: finanzierbar für die geplante Tournee der Musiker waren maximal sieben Blasinstrumente, und dem Stück habe ich die Kurzgeschichte „Gran Partita“ des Aargauer Autors Andreas Neeser zugrunde gelegt. Die Geschichte handelt von Natur und Mythen der Bretagne. Und das musikalische Material selber habe ich dann wiederum direkt aus der Struktur der Geschichte, aber auch mit Bezügen zu Stein, Meer und Vögeln entwickelt.

Wie stellen Sie die Bezüge zu diesen Elementen wie Stein, Meer und Vögel her?
Bei den Vögeln sind es Imitationen der Möwenschreie in der Bretagne, beim Granit hingegen eine Granitskala, das heisst, eine Auswahl von Tönen, die ich aus den Eigenschaften von Bestandteilen wie Quarz und Glimmer ableite – so dass die entsprechenden Passagen im Stück (ohne dass dies den Hörern bewusst sein muss) quasi einen spezifischen Bezug erhalten. Dies ist natürlich noch keine Musik – sondern nur das Grundmaterial, um damit zu komponieren!

Sie sind auf der Welt viel herumgekommen, glauben Sie, dieses Wandern ist für die eigene künstlerische Entwicklung wichtig?
Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Regionen empfinde ich für mich persönlich als äusserst bereichernd, trotz Verwurzelung im Aargau und im Bewusstsein, dass wir alle hier in der Schweiz extrem privilegiert leben, was uns diese Auseinandersetzung ja überhaupt erst ermöglicht. Ein Auslandjahr mit meiner Familie in Sydney vor 15 Jahren war in dieser Hinsicht extrem beeindruckend. Die direkte Auseinandersetzung und Erfahrung finde ich wichtig – gerade heute, wo alles jederzeit abrufbar und verfügbar scheint.

Was genau hat Sie nach Boswil verschlagen? Gerade für Sie, als „Mann von Welt“, scheint das Künstlerhaus doch ziemlich abgelegen zu sein.
Ich empfinde mich keineswegs als „Mann von Welt“, das tönt doch etwas abgehoben! Im Gegenteil – ich habe mich seit meiner Kantizeit extrem stark für verschiedenste Aargauer Kultur eingesetzt, gerade das musikalische Erbe des Kantons liegt mir wirklich am Herzen. Und abgelegen ist das Künstlerhaus nur scheinbar und nur geographisch – aber sonst kommt die Welt eben gerade nach Boswil! Die Verbindung von ländlicher Idylle mit fantastischer Musik macht die Stärke Boswils als einer der neun Aargauer Kulturleuchttürme aus. Und die Begegnung mit Musikern aus dreissig Nationen gehört immer von neuem zu den Highlights in meinem Job! – Insofern hat es mich nicht nach Boswil „verschlagen“, sondern Boswil ist ein Glücksfall und eine logische Fortsetzung meiner früheren Tätigkeiten: Ich war unter anderem während je fünf Jahren Projektleiter am Stapferhaus Lenzburg und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am grössten Schweizer Völkerkundemuseum, des Museums der Kulturen Basel.

Sie liessen schon mal ein Quartett mit vier Helikopter über dem Künstlerhaus kreisen oder organisierten den Weltrekord des grössten Kuhglockenorchesters (640 Stück) – ist das manchmal nicht ein bisschen zu viel für das doch sehr ländliche Boswil?
Manchmal wünschen wir uns zwar etwas mehr urbanes Publikum. Doch der Standort auf dem Landort hat seine besonderen Qualitäten der Ruhe und Konzentration. Und ein bisschen von der Tradition des „Think Tanks“, welches das Künstlerhaus früher auszeichnete, vom Innovationsgeist, soll auch heute immer wieder aufscheinen. Gerade weil wir klein und flexibel sind, ist dieser kreative Spirit möglich und sind solche Projekte – dank Erfahrung, genügend Power und auch etwas Glück – realisierbar.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Komponieren und dem Leiten des Künstlerhauses?
Es geht sicherlich in beiden Fällen darum, komplexe Prozesse für mich optimal zu organisieren, und zwar so, dass in beiden Fällen ein Resultat herausschaut, welches das Umfeld bereichert und – so hoffe ich – glücklich macht.

Würden Sie den gleichen Weg nochmals einschlagen oder würden Sie grundsätzlich etwas anderes machen?
Die Frage stelle ich mir eigentlich nicht – ich durfte bisher einen tollen Weg gehen, der mich sehr erfüllt hat.

Aus Ihrer Sicht, welche Anforderungen muss eine Kantonsschule erfüllen? Wo sehen Sie Verbesserungspotential?
Während der Kanti gab es natürlich immer wieder den Frust darüber, was alles gebüffelt werden musste. Und fast alles davon ist heute schon lange wieder vergessen … Dennoch glaube ich, dass dieses Wissen und diese Erfahrung quasi unbewusst da ist als fruchtbarer Boden, auf dem man selber wachsen kann. Diesen breiten Horizont mit auf den Weg zu geben – dies scheint mir früher wie heute die Hauptaufgabe einer Kantonsschule.

Wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen, was kommt als nächstes – das Zürcher Opernhaus?
In Tübingen las ich vor kurzen an einer Hauswand den Spruch: „Ein Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter.“ Das Opernhaus wäre deshalb garantiert keine Option! Das Künstlerhaus Boswil ist hektisch genug, gleichzeitig anspruchsvoll und befriedigend, gilt es doch, mit dem Bauern von nebenan wie mit dem Weltstar klar zu kommen und sich um Musikprojekte, Finanzen, Liegenschaften mit Hotelbetrieb und ein zwölfköpfiges Team zu kümmern … Dies ist auch weiterhin meine Perspektive!

Von Florian Sommer