Être und avoir? Da denken die meisten wohl zuerst einmal an Lektionen, in denen die beiden Hilfsverben geübt und in allen zu kennenden Tempi und Modi durchkonjugiert werden. Es mag wenig erstaunen, wenn eine Französischlehrerin einen Text im «sage&schreibe» mit den beiden Verben beginnt und diesen sogar noch einen prominenten Platz im Titel des Textes zugesteht: Es sei mir erlaubt, siebzehn Jahre Französischunterricht – und natürlich ganz grundsätzlich die Faszination für mein Fach, die mich immer noch begleitet – in den folgenden Gedanken nicht ganz aussen vor zu lassen. Die Konjugation kann dabei aber für einmal getrost vergessen werden. In den grundsätzlichen Gedanken einer Prorektorin zu Schule und Bildung ist eine weit allgemeinere Warte gefragt. Was also haben sein und haben mit Bildung zu tun? Sehr viel.
Was sind und haben unsere Schülerinnen und Schüler zu Beginn und am Ende ihrer Schulzeit an der Alten Kanti? Sie haben bei Eintritt eine Wissensbasis aus den vorhergehenden neun Schuljahren, sie sind aber nach wie vor wissensdurstig, neugierig und daran, zu jungen Erwachsenen heranzureifen. Die Alte Kanti soll sie auf diesem Weg unterstützen, will heissen, Wissensdurst und Neugierde erhalten und – nebst all den fachlichen Inhalten, welche die vorhandene Basis ergänzen – vor allem auch überfachliche Kompetenzen fördern. In unserer sich enorm schnell verändernden Welt, in der vieles aufgrund des rapiden Wandels oberflächlich bleibt und Sachverhalte oft nur ungenügend hinterfragt werden, in der Konsum und Wirtschaftlichkeit längst zu scheinbar tragenden Säulen der Gesellschaft geworden sind, zeigt sich die Wichtigkeit von kritischem Denken, von sozialen und kommunikativen Kompetenzen sowie von reflektierten Wertvorstellungen und Haltungen. Sie sollten das eigentliche Sein und Wesen unserer Schülerinnen und Schüler ausmachen, das sie auf dem Weg zum Schulabschluss entfalten und vertiefen können und das sie nach der traditionellen Uselütete als Rüstzeug für den weiteren Lebensweg mitnehmen. Denn auch ein Abschluss auf der Sekundarstufe II öffnet nur weitere Tore zu weiterführenden Bildungswegen, für die Vorhersagen in Bezug auf verwertbare Wissensinhalte, die einige Jahre später nicht bereits überholt sein könnten, schwierig geworden sind. Am Ende dieser Schulzeit müssen Schülerinnen und Schüler also flexibel bleiben und sich auf lebenslanges Lernen einstellen, mit Neugier und viel Eigenmotivation, die ihnen ein modernes Gymnasium oder eine zeitgemässe WMS / IMS haben erhalten können.
«L’homme n’est rien d’autre que ce qu’il se fait», hätte Sartre dazu gesagt (Zitat aus «L’existentialisme est un humanisme» aus dem Jahr 1945), und ich füge hinzu, dass dies gewissermassen die Leitidee oder geradezu das Wesen von Bildung ist: sich stetig weiterentwickeln, dank kritisch reflektiertem (Fach-)Wissen und indem man sich immer wieder aufs Neue auf sein eigentliches Sein besinnt.
Von Marianne Deppeler
[Bild: Irina Wagner]
Marianne Deppeler studierte Französisch und Germanistik an der Uni Bern. Seit 2003 ist sie Lehrerin für Französisch an der Alten Kanti, seit August 2020 zudem Prorektorin in der Nachfolge von Peter Hänsli. Ihre Zuständigkeiten umfassen die Bereiche 3. und 4. Klasse Gymnasium, Projektunterricht, Maturaarbeiten, Abschlussprüfungen und Nawimat.