Kultur, Sage & Schreibe Nr. 20

Flecken im Nacken

Die Landschaft zieht an mir vorbei, verschwimmt zu einem trüben Bild aus Grau und Grün.
Es ist ungewohnt kalt, kalt und trocken. Besser als kalt und nass wie zu Hause.
Unruhig folgen meine Augen den Bäumen. Mischwälder erstrecken sich zu beiden Seiten des Zuges, über die Hügel und Berge. Da und dort Blüten, die sich dieser Kälte gewohnt sind. Der Fluss, über dessen Brücke der Zug gerade fährt, ist bedeckt mit einer dünnen Eisschicht. Kleine, fast unsichtbare Schneeflocken in der Luft.
Sie tanzen vor meinen Augen und erzeugen ein flimmerndes Bild.
Ich betrachte es so lange, bis ich nichts mehr sehe.

Die Bäume peitschen mit ihren Ästen
Sie peitschen und züngeln und greifen nach mir
Krallen starker Klauen versinken
In meinem Leib
Schmerz durchzuckt mich
Menschenfinger
Oder doch Baumfinger
Und spielen nicht noch irgendwo Kinder
Die schwarzen Tasten eines Klaviers
Nein da sind nur Bäume
Sie lachen finster und keifen mich an
Sie lachen und husten und singen Sopran
Irgendwo spielt ein Saxophon
Irgendwo peilt ein Baum einen Halbton an
Und auf einmal
Schreien sie zusammen im Kronenchor
Sieh doch herauf

Der Zug fährt mit einem Ruck an. Er ist bereits wieder auf dem Weg und lässt die letzten Häuser hinter sich. Die Musik und die Stimmen der Bäume hallen in meinem Kopf.
Die Laubbäume scheinen mit jedem Kilometer, den wir zurücklegen, zu schrumpfen, bis sie nur noch Sträucher sind und schliesslich ganz abgelöst werden von weiten, undurchdringlichen Tannenwälder, ab und an unterbrochen von Wiesen und eisigen Seen.
„Wie lange sind wir schon unterwegs?“, frage ich.
„Etwa 40 Stunden“, antwortet er.
„Also liegen noch 9 Tage vor uns!“

Vergiss die Lage
Die Identität als Gesamtbild
Scheint ihre Farbe abzugeben
An Lippen, die aufeinander treffen
Flecken im Nacken necken
Wo zuvor noch niemand war
Hisst einer eine Flagge der Leidenschaft
Und des Hungers
Der gegen die Magenwand knurrt wie ein alter Hund
Ein treuer Begleiter
Der einzige, der dich niemals alleine lässt
Worte werden geflüstert
Wo zuvor nur Stille war
Herrscht nun Gänsehaut
Die Lippen machen schlapp,
Der Sauerstoff wird knapp, der Luftdruck steigt

Sibirien.
„Du hast lange geschlafen“, sagt er. „Hast du Hunger?“
„Hunger?“, frage ich zurück.
Ich schaue nach draussen. Die Tannenwälder sind nun ebenfalls gänzlich verschwunden. Kahle, graue Felder, an einigen Stellen mit Gras oder Schnee bedeckt, reichen bis zum Horizont. Nur in der Ferne erheben sich Schneegipfel. Es scheint, als wollten sie in dieser Weite Platz für Gedanken lassen.

Von Andjelka Antonijevic