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Fremd und doch zuhause

Viktoria Dzhamgarova, Armenierin aus der Ukraine, und Suthasini Punithakumar, aus Sri Lanka, sind beide in die Schweiz ausgewandert. Sie erzählen, wie sie die Kultur ihrer Heimatländer hier leben und weitergeben.

Von Paynavi Punithakumar und Valeria Tomassini, G19A


[Bild: Paynavi Punithakumar & Valeria Tomassini]

«Ich fühle mich zu 100 Prozent armenisch»
Ich bin in Aserbaidschan geboren. Doch schon als ich vier Jahre alt war, musste ich mit meiner Familie in die Ukraine fliehen, da der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan ausbrach. Viele Menschen flüchteten in die Ukraine, unter anderem auch viele meiner Verwandten.

Meine Ururgrosseltern kamen aus Armenien. Ihnen war ihre Herkunft und ihre Kultur sehr wichtig und sie gaben sie ihren Kindern weiter. Auch diese gaben die armenische Lebensart weiter, und so machten es auch meine Eltern. Obwohl wir in der Ukraine lebten, erzählten mir meine Eltern viel über die armenische Kultur. Wie die Menschen in Armenien zu allen, auch Fremden, offen sind und sie an ihre Tische einladen. Sie kochten mit mir armenische Gerichte, die immer mit vielen Kräutern gewürzt sind, und sie erzählten mir viel über die armenische Geschichte. Schon immer liebte ich die armenische Kultur, und obwohl ich nie in Armenien gelebt habe: Ich fühle mich zu 100% armenisch und würde sogar sagen, dass Armenien meine erste Heimat ist.

Mit 29 Jahren zog ich in die Schweiz. Seither lebe ich hier mit meinem Mann. Ich wusste schon immer, dass die Ukraine nicht mein Land ist. Ich liebe Struktur und Ordnung, weswegen die Schweiz perfekt ist für mich, obwohl ich teilweise noch Mühe habe mit der Sprache. Wegen der räumlichen Distanz habe ich jedoch weniger Kontakt mit meinen Freunden und meiner Familie in der Ukraine. Das finde ich sehr schade, denn für mich ist das auch ein Verlust meiner Kultur. Die Menschen, mit denen man seine Kultur teilt, machen nämlich die Kultur aus. So würde ich behaupten, dass ich die armenische Kultur besser in der Ukraine ausleben konnte als in der Schweiz, da ich dort mehr Menschen hatte, mit denen ich sie teilen konnte.
Auch hier in der Schweiz habe ich Freundinnen aus Armenien, welche ich ab und zu treffe. Gemeinsam kochen wir armenische Gerichte und tanzen zu armenischer Musik. Zwar gibt es hier auch Vereine, in denen man gemeinsam seine Kultur pflegen kann, doch dafür fehlt mir die Zeit.

Wäre ich noch in der Ukraine, würden auch meine Kinder mehr von der armenischen Kultur lernen. Hier erleben sie ja nur meine Erziehung und lernen die Kultur nur durch mich kennen. Aber die Mischkultur hat auch Vorteile. So habe ich hier viel von anderen Müttern gelernt. Die Art, wie sie mit den Kindern umgehen, ist ziemlich anders. Sie schenken ihnen viel mehr Vertrauen.
Für mich hat meine Lebensart viel mit meiner eigenen Identität zu tun, und deshalb finde ich es auch wichtig, dass man sie mit anderen Menschen teilen kann – überall.

«Meine Kinder sollen wissen, wo ihre Wurzeln liegen»
Ich bin in Sri Lanka geboren, genauer gesagt im Norden von Sri Lanka, in Jaffna. In Sri Lanka gab es lange Zeit einen Bürgerkrieg, der das Land in tamilische und singhalesische Orte teilte. Der Norden gehört zum tamilischen Teil, daher bin ich Tamilin. Aufgrund dieses Krieges flüchteten viele ins Ausland, denn dort erhoffte man sich Chancen und Möglichkeiten für ein besseres Leben.
Mit 26 Jahren bin ich in die Schweiz gekommen, doch viele Familienmitglieder sind in Sri Lanka geblieben. Trotzdem trage ich auch in der Schweiz die Geschichte meiner Familie und meiner Vorfahren in mir.
Würde ich die Kultur nicht pflegen, würde ein Teil dieser Geschichte verloren gehen. Besonders die religiösen Traditionen verstärken die Verbindung zu meiner Familie. So fühle ich mich meiner Familie nahe, obwohl ich geographisch weit weg von ihnen bin.

Wie ich lebe, hat viel mit dem zu tun, wer ich als Person bin. Es hat einen grossen Einfluss auf meine eigene Identität. Daher ist es mir sehr wichtig, meine Kultur meinen Kindern weiterzugeben; sie sollen wissen, wo ihre Wurzeln liegen.
Mein Mann und ich erzählen ihnen viele Geschichten. Wir essen viele tamilische Gerichte, pflegen kulturelle Traditionen, gehen gemeinsam an tamilische Feste und halten den Kontakt mit unserer Familie in Sri Lanka.
Ich denke, die tamilische Kultur ist sehr wichtig für meine Kinder, da sie von klein auf sehr viel mit ihr zu tun hatten. Sie werden sicher auch ihren Kindern vieles aus der tamilischen Kultur beibringen. So bleibt unsere Kultur in gewisser Hinsicht immer am Leben.

Es ist schwierig, eine fremde Kultur in einem anderen Land vollständig auszuleben, obwohl es mir viel bedeutet. Es ist wichtig, offen zu sein für Anpassungen, da man vieles aus der neuen Kultur lernen und übernehmen kann. So ist durch das Leben in der Schweiz in meiner Familie eine spannende Mischkultur entstanden.
Während in Sri Lanka meistens traditionelle Kleidung getragen wird, ist dies in der Schweiz so nicht möglich, deshalb ziehe ich diese hier nur an tamilischen Festen an. Auch die religiösen Fastenzeiten sind hier nur schwierig einzuhalten. So habe ich mich insofern angepasst, als ich während der Fastenzeit nur auf Fleisch und Eierprodukte verzichte. Doch Feste wie Todestage von Bekannten und traditionelle Hochzeiten werden auch hier in der Schweiz gleich gefeiert wie in meinem Heimatland.
In meiner Heimat gibt es viele religiöse Traditionen, die mir ans Herz gewachsen sind. So hat beispielsweise jedes Haus in Sri Lanka ein Gebetszimmer, in dem die Menschen beten können. Deshalb ist es mir wichtig, dass ich auch hier in der Schweiz ein Gebetszimmer habe.
Ein Verlust, der sich leider nicht ersetzen lässt, ist das Gefühl der Gemeinschaft. In einem Dorf in Sri Lanka kennen sich alle, Feste werden meistens mit dem ganzen Dorf gefeiert. Eine solch starke Verbindung mit seinen Mitmenschen gibt es in der Schweiz nicht. Und genau dieses Gefühl der Gemeinschaft vermisse ich.


[Bild: Paynavi Punithakumar]