Der Hammer
2009 hat sich die Alte Kanti ein neues Leitbild gegeben. Hatten Sie es schon einmal in der Hand? Ein gewichtiges, attraktiv gestaltetes, farbiges, klar strukturiertes, inhaltlich substanzielles Dossier. Zweifellos das schönste Leitbild weit und breit. Überprüfen Sie es!
Die sechs Leitsätze unter den Titeln Die nachhaltige Schule, Die vielfältige Schule, Die professionelle Schule, Die menschliche Schule, Die verantwortungsbewusste Schule, Die attraktive Schule halten bei aller Knappheit deutlich fest, wohin unsere Schule will. Zu jedem Leitsatz zeigen Konkretisierungsbereiche auf, wo er sinnvoll umgesetzt werden kann. Es folgen 160 (!) handfeste Vorschläge, wie die Leitideen im Schulalltag fruchtbar gemacht werden können. Unser Leitbild – der Hammer!
Der Knüppel aus dem Sack
Wörter büffeln, Fakten wiederkäuen, Theorie statt Praxis: die nachhaltige Schule? Ein Quartal lang Barock, drei Wochen Schülervorträge, in 45 Minuten 6m2 Tafel abschreiben: die vielfältige Schule? Die Hausaufgaben nicht erledigt, die Schulleitung tritt ins Fettnäpfchen, das Sekretariat gibt falsch Auskunft: die professionelle Schule? Nicht ausgeschaltete Computer, Flugreisen zu exotischen Projektwochen: die verantwortungsbewusste Schule? Ungeputzte Mikrowellen, verschmutzte WCs: die attraktive Schule? 2.5 in Englisch, fünf Prüfungen vor Weihnachten: die menschliche Schule? Bei allem, was schief läuft, was besser gemacht werden müsste oder was einem schlicht nicht passt, kann das Leitbild als allzeit bereiter Knüppel aus dem Sack auf die vermeintlich Schuldigen losgelassen werden: „Das steht aber im Leitbild! Darüber wurde abgestimmt! Hier wird versprochen, dass …“
Das Leitbild verspricht viel – die Realität hält sich nicht daran. So ist es doch!
Kellers „schönes Bildwerk“
Ja, so ist es. Und man kann es weder dem Leitbild vorhalten noch der Realität.
In einem Brief an Berthold Auerbach braucht Gottfried Keller 1860 einen Vergleich, der oft als Definition des poetischen Realismus zitiert wird (der folgende Ausschnitt ist gekürzt):
„Wir haben in der Schweiz allerdings manche gute Anlagen und ein ehrliches Bestreben, es zu einer anständigen und erfreulichen Lebensform zu bringen; aber noch ist lange nicht alles Gold, was glänzt; dagegen halte ich es für die Pflicht eines Poeten, die Keime der Zukunft so weit zu verstärken und zu verschönern, dass die Leute noch glauben können, ja, so seien sie und so gehe es zu! Kurz, man muss, wie man schwangeren Frauen etwa schöne Bildwerke vorhält, dem allezeit trächtigen Nationalgrundstock stets etwas Besseres zeigen, als er schon ist; dafür kann man ihn auch um so kecker tadeln, wo er es verdient.“
Was hat das mit dem Leitbild zu tun? Alles. Auch an der Alten Kanti ist gewiss nicht alles Gold, was glänzt. Aber ebenso gewiss sind wir alle, Schülerinnen und Lehrer, Angestellte und Schulleitung, doch hier, weil wir an unserem Platz und mit unseren Möglichkeiten das Beste geben wollen – oder etwas altmodischer: etwas Anständiges und Erfreuliches schaffen.
Und weil wir das im Alltag mit seiner Hektik und seiner abstumpfenden Routine immer wieder mal vergessen, brauchen wir das Leitbild als Vision, die uns zeigt, wie wir eigentlich gerne wären.
Ein Arbeitsinstrument
So ist es durchaus richtig, wenn wir uns das Leitbild gegenseitig vorhalten. Aber weder als potemkinsche Fassade, noch mit zynischem Grinsen – sondern als Mahnung und Ermunterung, die Realität mit dem „schönen Bildwerk“ zu vergleichen und daran zu arbeiten, dass die beiden sich annähern.
Unser Leitbild nennt sich bewusst ein Arbeitsinstrument. Das tönt unbequem und ist auch so gemeint. Und provoziert die Frage: Wird diese Arbeit gemacht? Passiert etwas mit der Schule, dank dem Leitbild?
Ja. Vielleicht noch zu wenig. Vielleicht einfach zu wenig sichtbar: Unsere Begabungsförderung zum Beispiel, die Projekte der Kulturstelle, die erhöhte Transparenz beim Prüfen und Bewerten, das Projekt Schulpartnerschaft mit Reutlingen erfüllen Anregungen des Leitbilds. Und klar: Nicht alle 160 Konkretisierungsvorschläge werden heute oder morgen schon umgesetzt. Manche wohl nie. Aber es bleibt dabei: Wir haben mit dem Leitbild einen Weg vorgezeichnet, auf dem wir – vielleicht langsam, aber hoffentlich sicher – vorankommen wollen. Das gilt.
Das Leitbild auf der Homepage: alte-kanti-aarau.ch > Organisation > Leitbild
Hans-Jürg Suter, Prorektor