Mit 43 Jahren ist Christian Dorer bereits Chefredaktor von BLICK, SonntagsBlick, Blick am Abend und Blick online. Der Absolvent der Alten Kantonsschule Aarau bestimmt, was jede Woche 1.8 Millionen Schweizerinnen und Schweizer lesen. Wie fühlt sich so viel Verantwortung (und Macht) an? Wie begegnet Christian Dorer der digitalen Herausforderung? Und wie geht er mit der allgegenwärtigen Gefahr von Fake News um? – Wir haben den einflussreichsten Journalisten der Schweiz in Zürich zum Gespräch getroffen.
Gut gelaunt, fast schon strahlend, betritt er das Büro, fragt sogleich, ob wir etwas zu trinken wollen, und nimmt uns mit ein paar freundlichen Fragen unsere Nervosität. Jung und dynamisch sieht er aus, seine Augen sind wach und scheinen alles gleichzeitig im Blick zu haben. – Und dann geht es zur Sache.
[Bild: Delia Limacher]
Christian Dorer, was verstehen Sie unter einer Boulevardzeitung?
Ein komplexer Begriff. Jeder versteht etwas anderes darunter, und viele verstehen den Begriff nicht sehr positiv. Ich sehe das nicht so, denn «Boulevard» bedeutet «die grosse Allee», meint den Ort, wo sich das ganze Leben abspielt. Das zeigt sehr schön, was der BLICK möchte: Antworten liefern auf alle Fragen, die sich unsere User und Leserinnen im Alltag so stellen, sie informieren über das, was sie beschäftigt. Dabei offerieren wir die ganze Palette – von Enthüllungen, über Aktualitäten und Hintergründe bis zur Aufdeckung von Skandalen. Wir agieren unter Umständen auch mal als «Volkshochschule», indem wir komplizierte Sachverhalte ganz einfach darstellen. Boulevard ist, so gesehen, das ganze Leben.
Es macht grossen Spass, Boulevard zu produzieren, denn wir können uns völlig frei aussuchen, über welche Themen wir berichten und worauf wir lieber verzichten. Boulevard muss prägnant und einprägsam sein, die Sprache einfach und präzise. Ich würde sogar sagen, es ist schwieriger, einen komplizierten Sachverhalt auf 60 Blickzeilen zu erklären als auf 250 NZZ-Zeilen.
Zusätzlich personalisiert Boulevard auch viel stärker. Wir schreiben zum Beispiel eher über den SBB-Chef, der schon wieder die Preise erhöht, als über die «anonymen SBB».
Schliesslich: Boulevard unterhält und informiert, hat aber auch eine Haltung und kommentiert. Ich schreibe zum Beispiel jeden Samstag im BLICK einen Kommentar zu einem aktuellen Thema. Das tun auch andere Journalisten der Blick-Gruppe.
Sie waren bis Ende 2016 Chefredaktor der Aargauer Zeitung. Was waren Ihre Beweggründe, das Qualitätsmedium zugunsten der Boulevardzeitung zu verlassen?
Diese Unterscheidung ist falsch. Was ist Qualität? Man kann einen Ferrari nicht mit einem 40-Tonnen-Lastwagen vergleichen. Zwar fahren beide Fahrzeuge ausgezeichnet, welches aber von besserer Qualität ist, lässt sich nicht sagen, da der Vergleich hinkt. Also: Boulevardjournalismus ist natürlich auch Qualitätsjournalismus, wenn er gut gemacht ist. Wir sind einfach in einem anderen Genre tätig als einer, der für eine regionale Tageszeitung wie die Aargauer Zeitung arbeitet. Aber zurück zu der Frage, wieso ich gewechselt habe: Ich habe eine Vergangenheit hier, bin schon einmal fast zehn Jahre lang hier im Haus gewesen, habe die Ringier-Journalistenschule besucht und war dann beim BLICK und SonntagsBlick als Wirtschaftsredaktor, Bundeshausredaktor und als stellvertretender Chefredaktor tätig.
Anschliessend ging ich zur AZ und hatte dort eine wunderbare Zeit. Ich bin noch heute extrem dankbar für die Chance, die sich mir damals geboten hatte – mit 33 Jahren Chefredaktor zu werden. Diese Stelle habe ich dann acht Jahre lang ausgefüllt. Mir war aber immer klar, dass dies nicht eine Lebensstelle sein wird – dafür war ich zu jung. Als ich dann das Angebot von BLICK beziehungsweise Ringier bekam, sagte ich mir, dass man wechseln sollte, wenn es am schönsten ist, und so wagte ich schliesslich den Sprung ins kalte Wasser.
Sie sind ja nicht nur Chefredaktor und Manager, sondern auch noch aktiver Journalist. Wie bringen Sie diese Doppelbelastung unter einen Hut?
Es sind tatsächlich verschiedene Aufgaben. Man ist der oberste Verantwortliche, zuständig für alles, was in den drei Blättern und online geschrieben wird, man ist also verantwortlich für die Inhalte, die journalistische Ausrichtung der Zeitungen. Des Weiteren, wie Sie schon gesagt haben, gibt es die Managementaufgaben, insbesondere im Bereich Personelles. Wir haben fast 200 Journalistinnen und Journalisten, ich habe mich mit jedem einzelnen ausführlich unterhalten, als ich hier anfing. Dies ist wichtig, denn ich mache den BLICK nicht alleine, ich brauche die richtigen Leute um mich herum und auch eine Nähe zu ihnen. Dann gibt es natürlich repräsentative Aspekte meines Jobs wie Vorträge, Reden oder Gastauftritte bei Fernsehsendungen.
Mir ist es wichtig, dass ich – im Unterschied zu anderen Chefredaktoren – immer noch regelmässig schreibe. Erstens, weil ich es gerne mache, zweitens, weil ich eine Vorbildfunktion ausüben möchte, und drittens ist es etwas, was einen journalistisch in Übung hält. Das ist wie im Sport: Auch da muss man immer trainieren, um fit zu bleiben.
Wie informiert man sich am zuverlässigsten – in einer Zeit, da man so unglaublich viele Informationen bekommt?
Das ist für uns alle im Grund ein Luxusproblem. Denn es ist nicht mehr wie früher, als die Medien kontrollierten, was die Leute wissen durften und was nicht. Heute kann man alles überall und zu jeder Zeit abrufen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, was stimmt und was nicht. Hierbei haben die traditionellen Medienmarken einen enormen Vorteil, da sie für Glaubwürdigkeit stehen. Früher hatte man meistens ein Zeitungsabo, wofür man rund 400 Franken zahlte. Da konnte man sich nicht zehn Zeitungen leisten. Heute hat man es – auch dank der Online-Angebote – schon viel einfacher, sich bei verschiedenen Zeitungen zu informieren. In diesem Sinne heisst es also, die Medienmarken zu finden, zu denen man Vertrauen hat, bei denen man sich zu Hause fühlt und welche die Themen behandeln, die einen interessieren.
Ich freue mich natürlich, wenn möglichst viele den BLICK als «Hauszeitung» wählen. Und wir tun auch alles dafür, unseren Lesern spannende und informative Inhalte zu bieten.
Sie haben eben ein wichtiges Thema angesprochen: Wie gehen Sie mit Fake News um?
Wir müssen wahnsinnig aufpassen, dass wir nicht selber Opfer von Fake News werden. Es gibt eine Regel, die besagt, dass wir nichts schreiben, was nicht mindestens durch zwei Quellen bestätigt wurde. Wir wollen den Leserinnen und Lesern die Garantie geben können, dass das, was sie lesen, auch stimmt. Denn Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sind unser wichtigstes Gut.
Wo sehen Sie die Grenzen, in politische und gesellschaftliche Prozesse einzugreifen? Anlässlich der türkischen Präsidentenwahl voriges Jahr hat BLICK die Türken in der Schweiz auf Türkisch aufgefordert, Erdogan nicht zu wählen. Gingen Sie da nicht zu weit?
Wir haben sie aufgerufen: «Stimmt Nein!» – Das ist korrekt. Denn es ist ein Widerspruch, in einem der freiheitlichsten Länder der Welt zu leben und gleichzeitig in der Heimat für diktatorische Verhältnisse zu stimmen. Das darf man sagen. Auch auf Türkisch.
BLICK hat eine Haltung, eine unabhängige Meinung, und die kommunizieren wir. Wichtig ist, dass man als Leserin oder Leser den Unterschied zwischen Kommentar und Bericht sieht. Wir sind jedoch nicht parteipolitisch. Wir sind unabhängig, und wir betrachten immer den Einzelfall.
Heutzutage ist die Geilheit der Leser auf Details in Bezug auf tragische Ereignisse sehr gross. Wo ziehen Sie da die Grenzen?
Was sich nicht geändert hat, ist das Bedürfnis der Öffentlichkeit, Antworten zu bekommen. Vor dem Rupperswiler Mordprozess beispielsweise hat sich unser Team getroffen, um zu definieren, was veröffentlicht werden soll und was nicht. Wir haben dann einen Liveticker eingerichtet, wobei Details, die für das Verständnis dieses Falles nicht entscheidend waren, nicht veröffentlicht wurden. Dieser Fall war natürlich sehr aussergewöhnlich. Täglich sind wir konfrontiert mit kleineren Fällen, die auf weniger öffentliches Interesse stossen, und dort ist der Opfer- und Täterschutz viel ausgeprägter als vor 30 Jahren. Man muss die Opfer unkenntlich machen. Die Gesetze müssen und wollen wir einhalten. Trotzdem versuchen wir, unsere Leser so gut wie möglich zu informieren.
Als Chefredaktor der Blick-Gruppe lastet eine enorme Verantwortung auf Ihnen. Können Sie nachts noch ruhig schlafen?
Es ist eine Gewohnheitssache, mit Druck umzugehen. Man hat dauernd Schwierigkeiten und Sorgen. Das bringt der Beruf mit sich. Man muss eine gute Balance finden zwischen einer gewissen Gelassenheit, viele Probleme lassen sich ja dann irgendwie lösen, und nicht abzustumpfen. Es wäre falsch, wenn ich nichts an mich heranlassen würde. Diese Balance musste ich auch erst finden. Es fällt mir heute viel leichter als am Anfang, als ich noch Chefredaktor bei der Aargauer Zeitung war. Dort haben mich kleinere Sorgen viel mehr belastet. Heute habe ich diese Balance glücklicherweise gefunden.
Wie gehen Sie mit Kritik am BLICK oder Ihrer Person um?
Es kommt immer darauf an, ob die Kritik gerechtfertigt ist oder nicht. Es gab beispielsweise einen riesigen Shitstorm von Politikern und Journalisten, als Donald Trump unsere Frontseite unterschrieben und hochgehalten hat. Viele meinten, die Inszenierung sei völlig daneben gewesen. Solche Kritik ist mir wirklich egal, da ich überzeugt bin, dass es eine gute PR-Aktion für den BLICK war. So was gehört nun mal zum Boulevard dazu, und ich würde es sofort wieder machen. Hingegen ärgere ich mich, wenn wir einen Fehler gemacht haben, also da, wo die Kritik wirklich berechtigt ist. Aber: Man darf diesen Job gar nicht annehmen, wenn man nicht mit Kritik umgehen kann.
Schon bei der Aargauer Zeitung haben Sie die Digitalisierung ausgebaut. Jetzt tun Sie bei den BLICK-Titeln dasselbe. In einem Interview haben sie auch erwähnt, dass die Printleserschaft eher abnimmt, währen der Onlinebereich wichtiger wird. Wie sehen Sie die Zukunft des Printjournalismus? Könnten Sie sich BLICK als reine Online-Zeitung vorstellen?
Den BLICK wird es sehr lange als gedruckte Ausgabe geben, der BLICK ist seit Jahrzehnten die wichtigste Medienmarke der Schweiz. Wenn wir aber wollen, dass dies so bleibt, ist der digitale Schritt ganz entscheidend. Vor allem die Jungen sind heute fast nur noch online unterwegs; dort müssen wir sie abholen. Deshalb investieren wir einiges in den Ausbau des digitalen Geschäfts. Wir wollen die Nummer eins bleiben, also müssen wir auch digital die Nummer eins sein. Deshalb investieren wir in neue Angebote.
Interessant finde ich übrigens, dass BLICK noch nie so viele Leserinnen und Leser hatte wie heute. Wir haben digital deutlich mehr dazu gewonnen, als wir beim Print verloren haben. Zusammen gezählt sind es etwa 1.8 Millionen Deutschschweizer pro Woche, die wir mit BLICK, Blick am Abend, SonntagsBlick und Blick online erreichen.
Zur Online-Zeitung gehört auch die Möglichkeit für Leserinnen und Leser, Kommentare zu schreiben. Da geht es aber oft nicht um konstruktives Feedback, sondern ums Dampfablassen. Wie kann man diese Hate-Kommentare verringern, ohne den Dialog mit der Leserschaft ganz zu verlieren?
Es ist wichtig, dass man die Leserschaft einbezieht, den Communitygedanken pflegt. Bei uns wird kein einziger Kommentar publiziert, ohne dass jemand von der Redaktion ihn überprüft hat. Dies müssen wir aus juristischen Gründen tun, denn wir sind dafür verantwortlich, dass alles, was publiziert wird, inklusive Kommentare, juristisch unproblematisch ist. Dies ist ein enormer Aufwand; immerhin gehen bei uns etwa 10’000 Kommentare pro Tag ein. Natürlich gibt es da zahlreiche Kommentare, die nicht veröffentlicht werden können. Bei besonders heiklen Themen kommt es auch vor, dass wir gar keine Kommentarfunktion anbieten.
Gehen wir noch einmal zurück zu Ihren Anfängen: Schon während Ihrer Kantizeit haben Sie beim «Aargauer Tagblatt» gearbeitet. Was war damals genau Ihre Aufgabe?
Mit dreizehn Jahren habe ich meinen ersten Artikel geschrieben. Ich durfte damals als freier Mitarbeiter verschiedenste Anlässe besuchen, Fotos machen und anschliessend darüber berichten. Mit achtzehn durfte ich Stellvertretungen als Polizeireporter übernehmen. Schon damals war mir klar, dass ich Journalist werden würde.
Sie haben ja die Alte Kantonsschule Aarau besucht; was war Ihr bestes Erlebnis an der Alten Kanti?
Ich hatte viele gute Erlebnisse. Überhaupt habe ich meine Schulzeit in guter Erinnerung. Ich war ja auch ein guter Schüler! Bis auf Biologie und Musik haben mir alle Fächer Spass gemacht. Noch immer pflege ich engen Kontakt zu Freunden aus der guten alten Kanti-Zeit. Das prägendste journalistische Erlebnis hatte ich mit neunzehn, als ich mein erstes Bundesrats-Interview führen durfte – mit Kaspar Villiger über seine Schulzeit an der Kanti.
Mit den Erinnerungen an den ehemaligen Bundesrat beenden wir das Interview. Noch aber haben wir kein Foto. Bei der Suche nach dem passenden Hintergrund blüht Christian Dorer nochmals richtig auf. Zusammen mit dem Foto-Chef schaltet er einen passenden Beitrag auf der Newswand auf und stellt sich davor. Und noch ein Porträtbild. Danke. Und noch ein Bild mit fetter Schlagzeile. Dann ist aber wirklich Schluss. Auf Christian Dorer wartet bereits der nächste Termin. So bedanken wir uns herzlich für das spannende und sehr unterhaltsame Gespräch und machen uns zufrieden auf den Weg zurück nach Aarau.
Von Delia Limacher und Laura Wälchli, G3L