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Glaziologie: Eine Wissenschaft der Zukunft 

Die Klimaerwärmung zeigt weltweit immer häufiger teils verheerende Folgen. In der Schweiz gilt eine der grössten Sorgen den Gletschern, die rasant schmelzen. Damit rückt eine noch relativ junge Wissenschaft in den Fokus: die Glaziologie. Simon Jung, Gletscherforscher an der ETH Zürich, gibt Einblicke in sein komplexes Forschungsgebiet und zeigt auf, wie sich die Gletscherschmelze langfristig auswirkt und inwiefern wir dem Wandel auch Positives abgewinnen können.

Von Ella Karg und Mila Schwyter, G21K

Was machen Sie als Glaziologe?
Gletscher werden seit über 150 Jahren systematisch untersucht, seitdem konnten diverse Methoden entwickelt werden. Eine der klassischen Methoden «im Feld», also vor Ort bei den Gletschern, besteht darin, dass Messstäbe in den Gletscher gebohrt werden. Dadurch kann man die Schneeauflage im Winter, der Akkumulationsperiode, und die Schmelze im Sommer, der sogenannten Schmelzperiode, messen. Die Positionsbestimmung des Messstabs erlaubt ebenfalls, die Fliessgeschwindigkeit an der Oberfläche des Gletschers zu bestimmen. Neben dem Bohren und analogen Vermessen der Gletscher wird auch Radar genutzt, um zum Beispiel Wassereinschlüsse zu finden und das Gletscherbett zu vermessen.

Ausserdem gibt es noch Methoden der Fernerkundung durch Satellitendaten. Dies erlaubt uns, Gletscher auf dem gesamten Planeten zu untersuchen und somit globale Aussagen zu treffen. Alle Messmethoden werden durch Modelle und Simulationen ergänzt, sodass ein ganzheitliches Verständnis der Prozesse im Gletscher ermöglicht wird und Prognosen getätigt werden können. Im Bereich der Modelle ist auch meine Forschung angesiedelt. Ich simuliere Kanäle unterhalb von Gletschern, welche das Schmelzwasser abtransportieren. Solche Kanäle sind vor allem für Prognosen von antarktischen Eisströmen und somit des Meeresspiegelanstiegs relevant. Der Wasserdruck in diesen Kanälen im Gletscherbett beeinflusst die Fliessgeschwindigkeit des Gletschers, also seine Bewegung.

Weshalb sind die Gletscher für uns in der Schweiz wichtig?
Gletscher speichern Wasser im Winter und geben es im Sommer ab. Zudem speichern sie Wasser in kühlen, nassen Jahren und geben es in trockenen, heissen Sommern wieder frei. Sie haben damit eine zentrale Rolle in der Regulierung des Abflusses. Sind die Gletscher verschwunden, fällt diese Funktion weg, was einen Einfluss auf die Wasserverfügbarkeit in Alpenregionen haben wird. Ausserdem entspringen die grossen Flüsse Europas in den Alpen und werden im Sommer massgeblich von den Gletschern gespeist. Der fehlende Abfluss wird demnach auch negative Folgen für das Wasservolumen der grossen Flüsse haben.

Mit der Energiestrategie 2050 will die Schweiz auf Wasserkraft setzen. Fast alle Stauseen der Schweiz beziehen ihr Wasser von Gletschern. Auch in Zukunft werden sie gefüllt werden, doch das Wasser kommt zu anderen Zeitpunkten im Jahr.

Ausserdem sind Gletscher sicherlich ein Touristenmagnet und ein wichtiges Identifikationsmerkmal der Schweiz.

Inwiefern hängen der Permafrost und die Gletscher zusammen?
Nicht direkt, allerdings wird beides stark durch das sich wandelnde Klima beeinflusst und der Rückgang kann zu instabilen Hängen beitragen. Permafrost und Gletscher haben unterschiedliche Effekte auf die Hangstabilität, sind aber beide wichtig dafür. Während das Auftauen von Permafrost ein generelles Problem für die Stabilität von Felsflanken in den Alpen bedeutet, zeigt sich der Einfluss von Gletschern auf Hangbewegungen und Steinschlag nur lokal und eher untergeordnet. Die Massnahmen, welche gegen Naturgefahren ergriffen werden, sind angepasst an die tatsächliche Gefährdungs-Situation. Ein Allerweltsmittel gibt es nicht, welches das Problem als Ganzes lösen würde. Daher ist eine genaue Beobachtung und ein rechtzeitiges Detektieren von (neuen) Gefahrenstellen zentral.

Welche Auswirkungen hat die fortschreitende Gletscherschmelze auf das globale Klima?
Wie oben beschrieben, übernehmen Gletscher eine regulierende Rolle im Wasserhaushalt. Schwinden die Gletscher, können sie diese Rolle immer weniger wahrnehmen. Ausserdem nehmen die Naturgefahren nicht nur durch die bereits erwähnten instabilen Hänge zu, sondern auch durch neu gebildete Seen. Gletscherseen können zur Gefahr werden, wenn sich in einem kurzen Zeitfenster zu viel Schmelzwasser am Fuss des Gletschers sammelt und über die Ufer des Sees tritt. Des Weiteren geht man davon aus, dass der globale Meeresspiegel bis 2100 um 0,3 bis 1 m steigen könnte. Die Gletscherschmelze liefert einen beträchtlichen Beitrag zu diesem Anstieg. Ein steigender Meeresspiegel betrifft uns in der Schweiz nicht direkt, aber es wird Millionen von Klimaflüchtlingen geben.

Gibt es auch positive Effekte der Gletscherschmelze oder Möglichkeiten, diese für die Zukunft zu nutzen?
Die alpine Landschaft wird sich verändern. Es wird weniger Gletscher geben, aber beispielsweise werden neue Seen entstehen und die Vegetation in höhere Bereiche vordringen.

Da die Gletscher aktuell noch recht gross sind und in den heissen Sommern stark schmelzen, steigt momentan die Schmelzwassermenge. Dies wird sich umkehren, sobald die Gletscher deutlich kleiner sind. Möchte man neue Stauseen anlegen, um die regulierende Rolle der Gletscher teilweise zu ersetzen, ist es wichtig, die hohen Schmelzwasseraufkommen zu nutzen, um die Stauseen zu füllen.

Sind unsere Gletscher noch zu retten?
Wenn es uns gelingt, die CO2-Emissionen tatsächlich bis 2050 auf Netto-Null zu senken (und dies global und nicht nur in der Schweiz), besteht tatsächlich noch Hoffnung, dass unsere Enkel Gletscher bewundern werden. Allerdings nicht dieselben wie heute: Auch unter diesem optimalen Szenario werden wir rund zwei Drittel des Gletscher-Volumens verlieren. Am Jungfraujoch gibt es dann aber noch Eis. Es lohnt sich also, das Klima zu schützen, denn dadurch können wir tatsächlich noch einige Gletscher bei uns retten.

Was bedeutet die Gletscherschmelze für ihr Forschungsfeld? Hat es ein Ablaufdatum?
Die Gletscher in den Alpen befinden sich in einem rapiden Wandel. Gerade in solchen Situationen ist ein gutes Verständnis der relevanten Prozesse besonders wichtig, um die direkten und indirekten Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft abschätzen zu können. Gletscher in höheren Lagen sowie vor allem grosse Eisströme in polaren Regionen werden nicht verschwinden, sondern sich an ein wärmeres Klima anpassen. Um die Folgen für die Wasserversorgung und den Meeresspiegelanstieg vorhersagen zu können, werden sich in diesem wandelnden System stets neue Fragen für die Glaziologie stellen.

Gibt es eine wichtige Erkenntnis aus der Glaziologie, von der Sie glauben, sie sei noch nicht in der Gesellschaft angekommen?
Gletscher reagieren sehr sensibel auf Veränderungen des Klimas, haben aber eine lange Reaktionszeit. Sie brauchen zwischen 10 und 100 Jahren, bis sie sich an ein neues Klima ’gewöhnt’ haben. Was wir also aktuell an den Gletschern beobachten, ist die Klimaveränderung der vergangenen Jahrzehnte. Umso wichtiger ist es, dies als deutliches Warnsignal zu verstehen. Momentan sind sie so stark aus dem Gleichgewicht, dass sie eben viel Masse verlieren. Selbst wenn das Klima sofort stabilisiert werden könnte, das jetzige Abschmelzen der Gletscher würde nicht sofort stoppen.

Simon Jung absolvierte sein Bachelor- und Masterstudium der Physik an der Bergischen Universität Wuppertal in Deutschland. Er forschte auch am Max Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Aktuell doktoriert er an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich sowie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL.

Bild: Simon Jung