«Die Arthritis, weisst du, die wird immer schlimmer. In den Händen auch. Zwei Reihen stricken, Andi, zwei, dann muss ich’s schon wieder hinlegen», jammert Oma Ingrid. Ihr Körper versinkt beinahe im übergrossen Bademantel, und händeringend blickt sie ihren Enkel an. Die Glückspost, die Andi ihr hilflos entgegenstreckt, lässt ihre Augen für einen Moment aufleuchten. «Wie lieb von dir! Sag Erika lieben Dank. Willst du Kaffee? Komm, ich ruf die Heike, die bringt dir einen.» «Nee nee, lass mal Oma. Ich trink doch eh keinen Kaffee, weisst du doch. Ich muss ja sowieso auch gleich weiter. Hab noch viel zu tun. Schule und so», murmelt der schlaksige Junge, vergräbt die Hände tief in den Hosentaschen seiner verwaschenen Jogginghose und der Rechten ertastet ein kleines Plastiktütchen, das er fest mit den Fingern umschliesst.
Die Grossmutter lamentiert weiter über ihre Beschwerden – entzündete Gelenke, Magenschmerzen, die Augen, die nicht mehr sehen wollen… Als sie ins Bad geht, um ihre Brille zu suchen, nimmt er das kleine Tütchen heraus und betrachtet die Pillen, die sich darin befinden. Sein Blick richtet sich auf die schmale Plastikbüchse, die neben der Glückspost von letzter Woche auf dem antiken Nachttischchen liegt. Schmerztabletten, eine für jeden Tag, unterteilt in einzelne Fächer. Die Montags- und Dienstagsration hat Oma Ingrid bereits gestern und heute genommen. Die Tabletten für die restlichen Wochentage liegen noch drin, oval und weiss, und sehen beinahe aus wie die, die er eben aus seiner Hosentasche gefischt hat. Einen Moment zögert er, ein Ausdruck von Unsicherheit huscht über sein Gesicht, bevor er kurzerhand die Mittwochstablette in der Pillendose austauscht.
Zuhause wirft sich Andi, verblüfft über seine eigene Dreistigkeit, aufs Bett.
Das vertraute Rattern von Prometheus‘ Hamsterrad beruhigt ihn. «Na Promi, läufst du nen neuen Weltrekord?.» Dass Andi sein Zimmer vor zwei Jahren in ein Labor umgewandelt hat, das hat keiner mitgekriegt. Seine Mutter brachte und bringt sich immer noch in unangenehme Situationen, mit noch unangenehmeren Typen, und sein Vater ist schon vor Jahren nach Kanada abgehauen. Dass Andi eine ungewöhnliche Begabung für chemische Vorgänge hat, fiel auch keinem auf. Herax, nennt er das Zeug, das aus monatelangem Tüfteln in seinem Zimmer entstanden ist.
Als er Dienstag darauf wieder auf dem Weg ins Altenheim ist, Erikas Glückspost unter den Arm geklemmt, ist ihm mulmig zu Mute. Hat Oma das Herax geschluckt? Wie hat es auf sie gewirkt? Prometheus war bis jetzt der Einzige, dem er ab und an eine Kostprobe seiner Droge gab, um die Wirkung zu testen. Als er das Zimmer seiner Grossmutter betritt, steht diese heiter am Fenster und kommt ihm mit offenen Armen entgegen: «Andi! Da bist du ja endlich! Guck, ich hab dir was gestrickt, probier’s mal an!» So glücklich hat Andi seine Oma schon lange nicht mehr erlebt. Es scheint, als ob alle ihre Lebensgeister zurückgekehrt wären. Andi ist verblüfft. Scheisse, das Zeug scheint wirklich zu wirken! Soll ich nochmal…?
Das Ganze nimmt seinen Lauf. Oma Ingrid bekommt jeden Dienstag von Andi eine Pille in ihre Dose geschmuggelt, die sie Mittwochmorgen nach dem Aufstehen mit einem grossen Glas Wasser hinunterspült. Eine halbe Stunde später blüht Oma Ingrid auf. Sie strickt Strümpfe, Mützen und Handschuhe, bis das ganze Heim für den Winter gerüstet ist. Beim Skat trumpft sie auf wie ein Weltmeister, woraufhin die anderen Bewohner abends mürrisch ihren Nachtisch an sie abgeben müssen. Den Rollator pfeffert sie morgens in die Ecke und nimmt ihn erst am nächsten Tag wieder hervor. Ja, am Mittwoch ist Oma Ingrid glücklich. Mittwoch ist Heraxtag.
Auch Andi ist beflügelt von dem Erfolg seines Stoffs. Doch eines Nachts, liegt Andi unruhig im Bett. Etwas stimmt nicht. Es ist ruhig. Zu ruhig. Er starrt ins Dunkle. Aus Promi’s Käfig ist nichts zu hören. Kein Scharren, kein Rascheln. Andi erschrickt. Fahrig leuchtet er mit der Taschenlampe seines Smartphones in Richtung des Käfigs. Der kleine Körper seines Hamsters liegt auf dem Rücken. Prometheus macht keinen Mucks mehr. Andis Augen weiten sich, in seinem Kopf rattert es. Er muss sich übergeben. Schnell rappelt er sich auf, zieht sich seine Jacke über, rennt hinaus, packt sein Fahrrad und rast wie besessen zum Altenheim.
«Die Ingrid? Nee, die isch nimme do, die habama ins Krangehaus brocht, der geht’s gar ned gut», teilt ihm Heike, die schwäbische Betreuerin, mit.
Das grelle Licht der Neonröhren blendet Andis Augen. Sein Pyjama riecht streng nach seinem eigenen Erbrochenen. Den Kopf vergräbt er tief in beiden Armen. Er blickt erst hoch, als ihm ein Weisskittel auf die Schulter tippt. «Ingrid Lehmann? Sie sind der Enkel?» Andi nickt und wischt sich mit dem Jackenärmel übers Gesicht. Er starrt auf die Mundbewegungen des Arztes, seine Worte und ihre Bedeutung holen ihn erst ein, als dieser bereits gegangen ist.
Erst jetzt bemerkt er das kahlköpfige Klappergestell von einem Mann, das mit seinem Infusionsständer den Gang entlang schlurft. Aufmunternd nickt dieser ihm zu: «Kopf hoch Kleiner, wird schon wieder. Die Hoffnung stirbt zuletzt.»
Von Laura Delimar, G4L
Schreibwettbewerb der Alten Kanti 2018 zum Thema «Die Büchse der Pandora».
«Glückspost» ist der Gewinnertext in der Kategorie II (3./4. Abteilungen)