«Hellblau oder gestreift?» Obwohl ich ihr die Frage nun schon zum dritten Mal stelle, scheint sie deren Inhalt nicht zu begreifen. Oder sie wägt noch ab. Ungeduldig rutsche ich auf dem altmodischen Holzstuhl hin und her, versuche ihrem kritischen Blick standzuhalten. Heute ist eigentlich ein guter Tag – und doch sieht es aus, als ob sie diese wenigen Worte überfordern würden.
Ich erwäge, ihr die Entscheidung abzunehmen und einfach selbst zu wählen – die Verlockung ist gross. Dennoch halte ich ihr stand und warte ab. Ich warte ab, wie mir geraten wurde.
«Sei geduldig, verlange nicht zu viel, mach oft Pausen …»
Ich weiss nicht, ob das so richtig ist, wie ich es mache – doch wer weiss das schon. An guten Tipps und Ratschlägen mangelt es jedenfalls nicht – eher an Verständnis und echtem Mitgefühl. Jeder scheint jemanden zu kennen, dem es ähnlich geht oder der das auch schon hatte. Doch das hilft nicht. Nicht mir – nicht meinem ‘Grosi‘. Erleben und bewältigen müssen wir das alleine.
Mein Blick schweift kurz ab, zum Fenster hin. Wegen des dünnen Gitters davor sieht es aus, als ob alles in kleine Quadrate eingeteilt wäre. Oder in Einzelteile zerlegt. So wie meine momentane Gefühlslage. Alles wird irgendwie zusammengehalten – aber hält es auch? Ich versuche mich gegen eine tiefe Traurigkeit zu wehren.
«Guten Abend, möchten Sie noch einen ‘Gute-Nacht-Tee‘ oder ein Joghurt?» Die glasklare Stimme der Pflegerin reisst mich jäh aus meinen Gedanken. Obwohl es völlig übertrieben ist, ärgere ich mich, dass wir unterbrochen wurden. «Vielleicht hätte sie gerade antworten wollen …»
Die Frage von vorhin steht nun nicht mehr im Raum – scheint nicht mehr relevant zu sein. Also einfach abhaken und weitermachen … so wie meistens.
Nun sitzen wir uns gegenüber und ich schaue ihr zu, wie sie das Joghurt verspeist. Sie isst es so, als hätte es heute noch nichts zu essen gegeben. So, als wäre dies ihr persönliches Highlight des Tages. Die Hand führt sicher und schnell den Löffel zum Mund. «Heute ist ein guter Tag.»
«Wie geht es dir in der Schule?» Obwohl ich überrascht bin über diese plötzliche, klare Frage, lasse ich mir nichts anmerken. «Recht gut.» Schnell fasse ich mich und erzähle ihr mehr – von der Schule, von zu Hause, von allem …
Es tut mir gut zu reden. Wahrscheinlich bin ich zu schnell und zu kompliziert in meiner Wortwahl. Und es ist eher ein Monolog als ein Gespräch. Es sieht so aus, als ob ihr gefallen würde, was ich sage – ihre Gesichtszüge werden weicher. Aber versteht sie mich?
Endlich bewegt sich auch der Uhrzeiger. «Endlich!» Vorhin hätte ich schwören können, die Minuten würden nicht vorbeigehen. «Zeit ist relativ. Wie wahr!»
«Wollen wir noch ein bisschen im Park spazieren gehen?» Diesmal empfinde ich die Unterbrechung nicht als störend. Im Gegenteil! Die vertraute Stimme meiner Mutter gibt mir auf einmal Sicherheit. Kraft. Unterstützung. Holt mich in die Gegenwart zurück. Ich habe gar nicht bemerkt, wie sie leise ins Zimmer gekommen ist.
Erst jetzt stelle ich fest, wie anstrengend die letzte halbe Stunde war. Mein Mund ist trocken, meine Hände feucht. Es fühlt sich an wie nach einem Marathon. Einem Marathon der Gefühle. Ohne Bestzeit. Ohne Beifall im Ziel. «Aber ich glaube, ich habe die Aufgabe gar nicht so schlecht gemeistert!»
Obwohl es schon langsam eindunkelt, ist es noch angenehm warm draussen – typisch für diese Jahreszeit. Ich liebe den Sommer – die Sonne, das Licht, die Wärme, die Farben – eigentlich alles daran. Dennoch ist dieser Sommer so anders. So traurig. So schwermütig. Nicht so, wie Sommer eigentlich sein sollten … unbeschwert, leicht, einfach und entspannt. Wer findet sich schon einfach zurecht in solch einer speziellen Situation. Wer kann einem Antworten geben auf die vielen Fragen? «Sind es Depressionen? Ist es Demenz? Spielt es überhaupt eine Rolle, was es ist?»
Wir werden langsamer auf unserem Spaziergang durch den Park und nehmen auf der Bank Platz. Von da aus können wir den Hirschen und Rehen im kleinen Gehege beim Fressen zuschauen. Jedes Mal, wenn ich hier sitze, versuche ich diese imposanten Tiere zu zählen. Es lenkt ab. Es ist jedoch schwierig, da einige Jungtiere versteckt hinter den Bäumen stehen oder im hohen Gras liegen. Ich komme immer auf eine andere Zahl.
Manchmal versuchen wir auch alle zusammen, die genaue Anzahl herauszufinden. Aber das bringt meistens Unruhe und ist hektisch. Heute zähle ich nur für mich alleine. «Das ist gut so.»
Nun sind wir wieder zurück im Zimmer und verabschieden uns. Ich bin traurig, meine Grossmutter eine Woche nicht sehen zu können. Ich bin aber auch froh, diesen Ort so rasch als möglich zu verlassen. Dies ist schön und furchtbar zugleich. Hell und dunkel. Laut und leise. Sonne und Regen. Gewitter im Kopf. Und niemand weiss, wie lange es noch so weitergeht – wie lange wir noch so weitermachen können. Es ist schwierig – für uns alle.
«Kommt Zeit, kommt Rat – wird sich das bewahrheiten? Wird wieder alles wie früher? Oder noch viel schlimmer?» Zum Glück können wir die Zukunft nicht voraussehen. Nicht in einer Kristallkugel und nicht in unseren Gedanken.
Dann noch zum Schluss eine kurze Umarmung, ein leichter Händedruck … und ganz unvermittelt fallen die Worte, auf die ich am Anfang so ungeduldig gewartet habe: «Am liebsten hellblau.»
Ich reiche ihr das Pyjama aus dem Schrank und bin zufrieden. «Heute ist ein guter Tag.»
[Bild: zVg]
Von Luana Longa, G2A