„Und Sie?“, fragt die Frau hinter der Scheibe.
Er schaut auf. Zwischen den Schlitzen im Glas hindurch findet sein Blick die hellblauen Augen, streift über die Lippen und kehrt zurück zu den eigenen Händen, die sich gegenseitig abtasten.
„Ich habe Sie etwas gefragt“, sagt die Frau. „Warum sind Sie hier?“
„Ich habe nichts getan“, sagt er, weil er auf diese Frage noch nie etwas anderes geantwortet hat. Er lächelt. Es bringt nichts, grimmig dreinzuschauen. Lächeln hilft meistens.
Wieder sucht sein Blick ihre Lippen. Sie erwidert das Lächeln, und die Hände hören auf, einander zu kneten, weil noch nie einer von denen zurückgelächelt hat.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sagen Sie mir alles. Wirklich alles, und vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Es muss ein Trick sein, denkt er. Die Leute auf der andern Seite der Scheibe haben immer irgendwelche Tricks, von denen er nichts weiss.
„Sie sind in unsere Wohnung gekommen“, sagt er, „in der Stadt, und sie haben uns angeschrien, und sie wollten unsere Pässe sehen. Und wir hatten keine Pässe. Woher sollten wir Pässe haben? Und sie haben meinen Freund, den ich schon seit der Wüstendurchquerung kenne, geschlagen, und seine Frau haben sie in ein Zimmer gestossen, und ich musste etwas tun, und ich habe auch geschlagen. Ich musste schlagen.“
Er versucht zu lächeln, doch es geht nicht. Er sieht seine beiden Fäuste vor sich. Die Fingernägel bohren sich in die Handflächen.
Die Wüste war schlimm. Jeden Tag fürchtete er, vergessen zu werden, verloren zu gehen. Vielleicht würden die Vorräte ausgehen, dachte er immer vor dem Einschlafen, dann hätte niemand ein Problem damit gehabt, ihn zu vergessen. Das Gefängnis ist gleich, genau gleich schlimm. Jede Wüste habe ein Ende, hat seine Mutter gesagt. Hinter der Scheibe, denkt er. Hinter der Scheibe ist er frei.
„Geht es Ihnen gut?“, fragt sie.
„Ja“, sagt er und lächelt, weil er immer lächelt, wenn sie hinter der Scheibe sitzt. Er will nicht, dass sie sieht, was hinter dem Lächeln ist.
„Es geht Ihnen nicht gut“, sagt sie. „Ich sehe doch, dass es Ihnen nicht gut geht. Sie müssen darüber sprechen. Sonst wird es nie besser.“
Sie weiss immer alles. Sie spürt sein Herzklopfen auch hinter dem Glas. Er möchte ihr nicht widersprechen.
„«Sie haben Ahmed abgeschoben, und wir haben es gestern in den Nachrichten gesehen. Er ist gestorben. Wir wissen nicht warum. Er ist im Flugzeug gestorben. Warum ist er im Flugzeug gestorben? Werdet ihr mit uns allen dasselbe tun?“
Er versucht zu lächeln. Er lächelt immer, wenn er schwach ist. Kaum traut er sich, ihren Blick zu erwidern.
„Es war ein Unfall“, sagt sie. „So etwas wird ganz sicher nicht mehr vorkommen. Sie wissen doch, dass Ihnen mit einem laufenden Verfahren der Migrationsbehörde…“
Sie zählt eine Reihe von Instanzen auf, die sich nach Gerechtigkeit anhören, nach einem Ort, wo das Paradies ist, das man ihm versprochen hat.
Für einen Augenblick ist sein Lächeln echt. Er lächelt, weil es sich so gut anfühlt, nicht sterben zu müssen. Für einen Augenblick, dann werden seine Züge hart.
„Das haben Sie Ahmed doch auch gesagt. Das sagen Sie allen.“
„Nein, das mit Ahmed – das war ein Unfall. Es wird nicht wieder geschehen. Da bin ich mir sicher.“
Er senkt den Kopf, sucht im Wirrwarr der Adern auf seinem Handrücken nach einem Ende.
Das Meer war schlimm. Jeden Tag sahen sie den Horizont, jeden Tag sahen sie alles vor sich, was man ihnen versprochen hatte. Es gab keine Grenzen, nur die der Vorstellung. Sie sahen das Ziel, waren fast da. Seine Mutter hat ihm immer gesagt, wenn er lange genug weitergehe, werde er den Horizont erreichen. – Das Boot kenterte. Wären sie nicht von einem Polizeischiff gerettet worden, wäre er ertrunken. Sie sitzt hinter der Scheibe. Sie ist der Horizont, denkt er. Und Glas ist zerbrechlich.
„Sie schieben mich ab“, sagt er und lächelt nicht mehr. Es wäre fehl am Platz.
„Nein, tun sie nicht. Warum denken Sie das?“
„Du kannst mich nicht anlügen. Du weisst es. Du musst mich retten.“
„Niemand schiebt Sie ab.“
„Sie werden mich umbringen im Flugzeug. Ich muss hier raus! – Bitte!“
„Niemand bringt Sie um. Seien Sie…“
„Hilf mir!“
Er steht auf. Es tut weh, als er auf das Glas einschlägt.
Die Scheibe zerbricht nicht.
Benjamin Bieri, G3L