Interview mit Franz Hohler
Ein herzlicher und aufgestellter Franz Hohler begrüsst uns in seinem Arbeitszimmer bei ihm zu Hause in Zürich Oerlikon. An den Wänden des hohen Raumes steht Literatur vom Boden bis zur Decke. Werke, Publikationen, Abhandlungen, Bände, Schmöker … Auf einer kleinen Karte an der Pinnwand steht handgeschrieben: „Die etwas fragen, die verdienen Antwort.“
[Bild: Julia Baumann, G3L]
Wenn Sie an Ihre Zeit an der Alten Kantonsschule in Aarau zurückdenken, welche Erinnerung kommt zuerst in Ihnen hoch?
Franz Hohler: In meiner ersten Erinnerung bin ich nicht einmal in der Kanti drinnen, sondern sitze in einer Fensternische des Parterres. Mein Cello steht neben mir und ich geniesse die Pause. Vielleicht ist das die erste Erinnerung, da es von genau dieser Szene ein Foto gibt. Auch erinnere ich mich an den Teich im Park und an den schönen Eingang zur Alten Kantonsschule.
Wo war ihr Lieblingsplatz?
Hohler: Nahe beim Ententeich war mein Lieblingsplatz. Da ich von Olten kam, war ich oft zu früh. Dies waren die Momente, in denen ich draussen gesessen und die Enten im Teich beobachtet habe. Aber natürlich hat die Kanti auch für mich nicht nur aus Pausen bestanden …
Normalerweise ging man, wenn man in Olten wohnte, in Solothurn an die Kantonsschule. Weshalb haben Sie sich für Aarau entschieden?
Hohler: Da die Verbindungen des öffentlichen Verkehrs damals schlechter waren, hätte ich in Solothurn wohnen müssen. Dort gab es ein Kosthaus, in welchem mein Bruder wohnte. Er erzählte mir, dass man abends zu bestimmten Zeiten dort sein musste. Ausserdem musste man nach Erlaubnis fragen, wenn man in den Ausgang gehen wollte. Deshalb wollte ich lieber pendeln. Schon damals dauerte die Fahrt von Olten nach Aarau nicht lange. Interessanterweise fühlte ich mich unabhängiger, wenn ich in meinem Elternhaus wohnte, als wenn ich in dieser organisierten Übernachtungsinstitution hätte leben müssen. Ausserdem hatte die Schule in Aarau einen ziemlich guten Ruf, obwohl man ein halbes Jahr länger zur Schule gehen musste als in Solothurn.
Wussten Sie in der Kantizeit schon, was sie später werden wollen oder hat es sich erst später ergeben?
Hohler: Ich hatte für mich zwei Biographien entwickelt. Aber an der Universität studieren wollte ich auf jeden Fall. In meiner ersten Biographie hätte ich einen Abschluss in phil I, also Germanistik oder auch Romanistik, gemacht und wäre Mittelschullehrer geworden. Dies wäre der normale Weg gewesen. Im Entwurf der zweiten Biographie wäre ich an die Uni und hätte mich dort umgeschaut. Ich hätte versucht, meine eigenen Ideen zu entwickeln und mit und von ihnen zu leben. Dazu hätte das Leben als Autor stark dazugehört.
Ich habe ja auch schon in meiner Kantizeit geschrieben und meine Texte – Kurzgeschichten, Konzert- und Theaterbesprechungen sowie Glossen – dem „Oltner Tagblatt“ geschickt. Ich habe es immer als Ermutigung gesehen, wenn meine Texte gedruckt wurden, wenn sie brauchbar waren. Gleichzeitig habe ich Theater gespielt und Musik gemacht. Ich habe das Cellospielen gelernt. Damals liess ich mir die Möglichkeit, Musiker zu werden, offen. Später verwarf ich diese Idee aber wieder. Am Schülerabend gab es immer ein Cabaret, bei welchem ich schon im ersten Jahr mitgewirkt habe. Ausserdem habe ich im letzten Schuljahr mit Freunden ein Cabaret-Programm in einem Keller in der Laurenzenvorstadt aufgeführt. Das funktionierte erstaunlich gut. Mit dem dadurch verdienten Geld konnte ich im Sommer sogar eine Reise nach Schottland unternehmen (lacht).
Diese zweite Biographie, die Traumbiographie, hat sich schon angekündigt. Doch ich wusste ja nicht, ob sie realistisch ist, ob es wirklich klappen könnte. Ich habe aber auch dafür gearbeitet. Im fünften Semester an der Uni habe ich ein literarisch-musikalisches Einmannprogramm gemacht. Ich konnte es im alten Heizungskeller der Universität, den ich für diesen Zweck zur Verfügung gestellt bekam, aufführen. Dieses Programm kam sehr gut an. Im selben Jahr konnte ich es mehrere Wochen in Berlin spielen. Ich wollte die Uni für ein Jahr verlassen, um mit meinem Programm auftreten zu können. Dieses Jahr dauert noch heute an, ich bin nicht an die Universität zurückgekehrt.
Sie sind teilweise auch sehr politisch engagiert. Waren sie schon immer ein politischer Mensch?
Hohler: Ich war früher nicht so politisch engagiert. Mein erstes Bühnenprogramm war total unpolitisch. Es war ein Stück, das sich mit dem Bildungsballast beschäftigte. Die damaligen Cabarets waren zwingend politisch. Aber ich empfand dies immer als langweilig. Ich wollte etwas ganz anderes machen. Ich schöpfte alles aus der Phantasie. Irgendwann begann sich die Phantasie an der Realität zu reiben. Darauf wurde ich ein Stück politischer. Ich begann mich mit Zuständen auseinanderzusetzen. In gewissen Fragen begann ich mich zu engagieren. Dies floss auch in meine Arbeiten ein. Ich habe beispielsweise ein Anti-AKW-Stück aufgeführt, bevor das Atomkraftwerk in Gösgen ans Netz ging.
In den 80er Jahren hatte ich ein satirisches Fernsehprogramm namens „Denkpause“. Dort bin ich auch auf die Politik eingegangen. Heute fliesst die Politik eher weniger in meine Arbeit ein, da ich selten kabarettistischen Werke mache. Die letzte politische Sache, für welches ich mich öffentlich eingesetzt habe, war die Wiedergutmachungsinitiative für Verdingkinder. Da war ich an einer Solidaritätskundgebung in Bern.
Inwiefern hat sich die Schweiz verändert?
Hohler: Diese Frage sprengt eigentlich ein Interview. Aber im Ganzen sehe ich die Entwicklung als positiv. Es ist vielleicht für Leute mit Ihrem Jahrgang noch schwer vorstellbar, dass es bis 1971 kein Frauenstimmrecht gegeben hat, dass eine Frau zur Eröffnung eines Bankkontos die Bewilligung eines Mannes benötigte. Die Schweiz ist freier geworden in all dieser Zeit. Die Bedeutung des Militärs beispielsweise ist zurückgegangen. Ein Dienstverweigerer hat heute eine anerkannte Haltung. Eines meiner Lieder, „Dr Dienstverweigerer“, wurde 1983 vom Schweizer Fernsehen nicht ausgestrahlt, weil man sagte, es sei zu subversiv. Dann kam 1989 die Abstimmung „Schweiz ohne Armee“. Diese 36 Prozent Zustimmung feierten wir wie einen Sieg. Das hatte man ursprünglich für einen Witz gehalten. Als Folge wurde die Gefängnisstrafe für Dienstverweigerer endlich abgeschafft.
Es ist vieles passiert, bei dem die Schweiz sich geöffnet hat, sei das zum Beispiel die Migrationsbewegung. Und das hat dazu geführt, dass ich heute in einem völlig anderen Land lebe als das, in dem ich aufgewachsen bin. Und ich finde, es hat sich nicht zum Schlechten entwickelt. Ganz generell.
Es gibt viele verschiedene Werke von Ihnen – Romane, Kinderbücher … Planen Sie, woran Sie arbeiten, oder setzen Sie sich einfach hin und schauen, was sich ergibt?
Hohler: Die Pläne entstehen mit den Ideen. Wenn ich eine Idee lange genug hege, dann kommt der Moment, in dem ich sage: So, mal sehen, ob es daraus einen Roman gibt oder nicht. Dann beginne ich, ihm Zeit einzuräumen. Ich setze Zeitfenster und suche einen Einstieg für das Buch, dann läuft das weiter. Zudem entsteht auch viel auf Anfrage. Für die Radioglosse „Zytlupe“ beispielsweise werde ich immer wieder gefragt. Das rührt mich. Schliesslich gibt es genug Junge, die das auch machen könnten. Eigentlich sagte ich einmal, ich würde nichts mehr machen. Aber wenn die Leute dann lange genug fragen, sage ich manchmal: „Also gut, ich mache doch etwas!“ (lacht).
Ich versuche aber auch, nicht auf zu viele Anfragen zuzusagen. Sie sollten nie das überlagern, von dem man denkt, dass man es eigentlich machen möchte.
Im Moment habe ich kein grösseres Projekt. Na gut, wenn mir nichts mehr in den Sinn kommt, dann war‘s das. Aber vielleicht kommt mir doch noch etwas in den Sinn (lacht verschmitzt) …
Wie kommen diese Ideen zustande? Gibt es bestimmte Auslöser oder immer wiederkehrende Inspirationsquellen?
Hohler: Der eigentliche Auslöser, so glaube ich, sind die eigenen Gedanken. Diese hängen mit der Haltung zusammen, die man dem Leben gegenüber hat. Dass man das Leben jeden Tag neu betrachtet. Dass man nicht verlernt, sich zu wundern. Eigentlich erleben wir dauernd Geschichten. Aber wir merken nicht, dass etwas eine Geschichte ist. Vielleicht geht man auch an etwas vorbei, und später denkt man, das könnte den Anfang einer Geschichte ergeben. Oder wie wäre es, wenn es anders gelaufen wäre? Man sollte nie ganz zufrieden sein mit dem Gesehenen, dem Gehörten und dem Erlebten. Sondern immer versuchen, ein bisschen weiter zu denken.
Ein Beispiel: Eine meiner bekannteren Geschichten heisst „Die Rückeroberung“. Sie beginnt hier an diesem Tisch (legt die Hand auf den alten Schreibtisch) mit dem Satz: „Eines Tages, als ich am Schreibtisch meines Arbeitszimmers sass und zum Fenster hinausschaute, sah ich, dass sich auf der Fernsehantenne des gegenüberliegenden Hauses ein Adler niedergelassen hatte …“. Das kam so, weil ich einmal hier am Tisch sass und einen Moment zum Fenster hinausblickte. Dort sah ich einen sehr grossen Vogel auf dieser Antenne. Ich arbeitete weiter und nach einer Weile fragte ich mich, was das wohl war … Er war schon weggeflogen. Ich überlegte mir: Was wäre, wenn das ein Adler gewesen wäre? So entstand diese Erzählung. Der Adler, der als Vorbote kam, dann kamen die Hirsche, die Wölfe und die Bären …
Sie haben vom „sich wundern“ gesprochen. Das ist eine Gabe, die vor allem Kinder haben. Sind Sie denn auch ein Stück Kind?
Hohler: Ja, unbedingt (lacht)! Es ist sehr wichtig, dass man seine kindliche Seite nicht vergisst. Für die Kinder ist die Welt noch nicht fertig erschaffen. Sie rechnen immer noch mit allem, was wir schon lange für unmöglich halten. Häufig haben sie noch einen Sinn für das Absurde, für Welten, die wir vielleicht aufgegeben haben. Kinder haben zum Beispiel keine Mühe damit, wenn ein Granitblock sagt: „So, jetzt geh ich ins Kino, es ist mir langweilig im Park.“ Dass Gegenstände oder Tiere handeln, ist für sie kein Problem. Letztlich denke ich, dass die Molekularphysik mit der Entdeckung all dieser Quarks und Atome bewiesen hat, dass auch Gegenstände voller Kraftfelder sind. Oder stimmt das nicht? Ich meine, ihr werdet gerade gebildet.
Auf Ihrer Webseite haben Sie ausschliesslich negative Kritiken niedergeschrieben. Sie sagten dazu, Sie möchten damit die Schattenseiten des Künstlerlebens beleuchten. Wie kam diese Idee zustande?
Hohler: Im Grunde durch das Anschauen anderer Künstlerwebseiten. Da stellen ja wirklich alle nur die besten Kritiken drauf. „Die überraschendste CD seit Jahren“ oder „So etwas Hervorragendes war auf der Bühne schon lange nicht mehr zu sehen“ und „Einer der bedeutendsten Romane“ – das haut niemanden mehr vom Sockel. Natürlich möchte man sich so gut wie möglich darstellen, aber ich dachte, ich mache jetzt einfach einmal das Gegenteil. Auch um zu zeigen, dass man das, wenn die Arbeit so schlecht wie beschrieben wäre, wohl kaum überlebt hätte. Und natürlich ist es ein kleiner „Gingg“ gegen die Kritik an sich: Ihr könnt alle schreiben was ihr wollt, mir ist es egal. Ich freue mich über jede schlechte Kritik, dann kann ich sie auf die Homepage setzen (lacht)! Aber es tut schon ein bisschen weh. Jedes Mal, wenn ich es anschaue, graust mir wieder. Umgekehrt ist es aber gerade das, was auffällt. Als etwas, das vom Normalen abweicht. Jeder Werber würde sagen, es ist gut, wenn es auffällt.
Das Verhältnis von Künstlern zur Kritik ist eine innige Feindschaft – den Verriss kennen alle. Auch viele zynische Kritiken gibt es. Ein alter Schauspielerspruch heisst: „Es gibt gute Kritiken. Es gibt schlechte Kritiken. Und dann gibt es noch Kritiken, da ist ein Foto dabei!“ Mit andern Worten: Ein Bild haut alles wieder raus. Ich wurde auch schon angesprochen: „Du, kürzlich, da wurde doch von Dir das Dings besprochen, war ein schönes Foto dabei …“. Er wusste nicht, wie es besprochen wurde – das Foto hat er gesehen.
Haben Sie in Ihrem Leben erreicht, wovon Sie als Kantischüler geträumt haben? Oder meinen Sie, etwas verpasst zu haben?
Hohler: Ich habe von den beiden Biografieentwürfen geredet, nennen wir sie Plan A und Plan B. Gut, „Plan“ klingt vielleicht schon etwas zu organisiert … Ich habe früh Biografie 2 gewählt – ohne Rückversicherung. Meine Eltern fragten mich damals, ob ich nicht doch abschliessen wolle. Ich wäre kein schlechter Student gewesen, aber ich wollte doch den zweiten Weg versuchen. Dass diese Traumbiografie gelungen ist, freut mich noch immer. Ich betrachte es als grosses Glück. Ich hatte etwas getan dafür und es war auch nicht immer leicht, dazu stehe ich. Ich würde es nicht einfach allen empfehlen, denn es muss jeder Mensch für sich selbst spüren und entscheiden, was für ihn richtig ist. Insofern denke ich, dass es richtig und falsch gar nicht wirklich gibt. Man macht immer wieder Dinge, von denen man im Nachhinein denkt, sie wären nicht unbedingt nötig gewesen. Davon gibt es etliche bei mir. Trotzdem muss man sagen, sie waren eine Erfahrung und trugen etwas zur Gestaltung des Lebens bei. Das ist vielleicht gerade so wichtig wie etwas, das besonders gut gelungen ist. Natürlich, es hätte auch vieles anders laufen können, aber es ist so gelaufen, wie es gelaufen ist. Bis jetzt. Wer weiss, was noch kommt (lacht)?!
Julia Baumann, Benjamin Bieri und Jenny von Arx, G3L