Das Amt der höchsten Schweizerin ist der bisherige Höhepunkt einer beeindruckenden politischen Karriere: 2025 präsidiert die Aargauerin Maja Riniker (FDP) den Nationalrat. Wir haben sie in der Aula der Alten Kanti zum Gespräch über Stress, Familie und Politik getroffen.
Von Jakob Hechler und Sorin Lababidi, G21K
Sage&schreibe: Frau Nationalratspräsidentin, wie viele Termine stehen heute in Ihrem Kalender?
Neben diesem Interviewtermin sind es vier weitere: zwei mit meinen Mitarbeitern, wo es um das Planen einer Reise und meinen Auftritt beim WEF geht. Dann habe ich noch einen Termin mit dem Team für Recherche und Information, welches mir meine Reden schreibt. Mit ihnen muss ich heute noch absprechen, welche inhaltlichen Schwerpunkte wir in Davos setzen wollen; schliesslich müssen wir noch mein Social-Media-Konzept besprechen und planen.
Abgesehen davon habe ich mir auch einen persönlichen Termin eingetragen für etwas, das ich heute unbedingt noch erledigen muss. Zusätzlich habe ich noch zwei Calls, einen am Mittag bezüglich Sicherheitspolitik in der Kommissionsarbeit und einen mit dem CEO eines Unternehmens. Das heisst, ich werde heute Abend wahrscheinlich schon um 17.30 Uhr in den Zug steigen und nach Hause fahren. Zusätzlich habe ich heute Abend frei, was eher selten vorkommt. Umso schöner!
Sind Sie stressresistent?
Ich denke, ja. Über die Jahre in den verschiedenen Ämtern habe ich gemerkt, dass ich resistenter und belastbarer bin als manch andere Person. Ich vergleiche das gerne mit den PS beim Auto: Wenn ich schnell fahre, sind das vielleicht 140 km/h, eine andere Person, die ebenso viel Gas gibt, kommt vielleicht nur auf 80 km/h. Das ist aber nicht alles nur Grundkonstitution – man muss auch den eigenen Körper kennen und pflegen. Wie viel muss ich schlafen? Wie viel Zeit brauche ich, um mich zu erholen? Wie ernähre ich mich gesund?
Abgesehen davon ist es aber auch wichtig, sich Ruhe-Inseln zu schaffen. Oder sich zu bewegen – in meinem Fall heisst das Joggen oder Wandern, was mir beim Erholen hilft. Ich denke, man kann viel zur Stressresistenz beitragen, indem man sich gesund und damit leistungsfähig hält.
Was stresst Sie auch nach so langer Zeit noch im politischen Betrieb?
Was mich auch heute immer noch stresst, sind definitiv die Medien, weil immer alles so schnell gehen muss. Gestern Abend habe ich noch um 23 Uhr eine Nachricht von einem Journalisten erhalten, in der er mich bat, seinen Text doch bitte bis heute um 11 Uhr gegenzulesen. Ehrlicherweise aber stresst mich die hektische Medienarbeit nicht mehr so sehr wie früher. Etwas anderes allerdings, das für mich immer wieder besonders stressig und vor allem körperlich anstrengend ist, ist das Vorbereiten und dann das Durchstehen einer Session im Nationalrat. Was mich hingegen kaum noch stresst, ist das Reden vor Publikum. Mittlerweile stellt sich eine Art innere Ruhe ein, sobald ich auf die Bühne komme.
Neben der Politik gibt es ja noch Ihr Leben als Familienfrau.
Meine Kinder sind inzwischen recht selbstständig, sprich, sie können sich auch selbst mal etwas zu Mittag kochen. Abgesehen davon unterstützt uns an drei Tagen pro Woche eine Haushaltshilfe, da mein Mann und ich nicht immer alles alleine managen können.
Am wichtigsten ist es aber, sich als Familie bestimmte Zeiten freizuhalten für gemeinsame Unternehmungen oder einfach für ungeplante Familienzeit. Ich habe zum Beispiel mal eine Anfrage aus der Privatwirtschaft erhalten, vor 700 Anwesenden zu sprechen – eine super Gelegenheit, die ich gern ergriffen hätte. Doch für jene Woche hatten wir als Familie bereits gemeinsame Ferienzeit vereinbart, weshalb ich das Angebot ablehnte. Wenn sich alle Beteiligten dieselben Zeitfenster schaffen und dann auch offenhalten, ist selbst in einem sehr unregelmäßigen Alltag wie meinem ein gemeinsames Miteinander möglich.
Wie lässt sich Stress managen?
Freunde darf man nie vernachlässigen. Ich selbst habe zum Beispiel einige langjährige, sehr enge Freunde, mit denen ich auch in arbeitsintensiven Zeiten in Kontakt bleibe. Da geht es dann null um Politik – für sie bin ich einfach Maja. Mit ihnen gehe ich zum Beispiel regelmässig jassen, treffe mich zum Sport oder auf der Piste zum Skifahren. Diese alten Beziehungen sind die wahren Freundschaften. Sobald man nämlich in der Öffentlichkeit steht und bekannter wird, wollen viele enger mit einem sein, aber ich mache mir da gar nichts vor: Kaum ist man aus dem Amt, sind die meisten wieder weg.
Woraus schöpfen Sie Kraft für die vielfältigen Aufgaben, die Sie zu bewältigen haben?
Früher hätte ich noch gesagt: einfach aus dem Sonnenlicht. Ich meine, so ein trister November in Aarau ist alles andere als gut für die Psyche. In diesen Zeiten gehe ich am Wochenende dann oft einfach mal raus, vielleicht sogar in die Berge, um das Sonnenlicht so richtig zu spüren und Energie zu tanken. Heute versuche ich aber auch, immer wieder Ankermomente zu setzen. Das sind Orte, die mir Kraft geben, wenn alles zu viel wird; oder ich begebe mich gedanklich noch einmal in unseren letzten Familienurlaub und lasse für ein paar Augenblicke besonders schöne Momente Revue passieren. Das hilft.
Sie haben Ihre Nationalratspräsidentschaft unter das Motto «Zusammenhalt durch Vielfalt» gestellt. – Fehlt es in der Schweiz an Zusammenhalt?
Ich glaube, dass Corona die Gesellschaft verändert hat. Dies betrifft besonders die Anspruchshaltung der Bevölkerung gegenüber dem Staat. Der Staat hat vielen Unternehmen unter die Arme gegriffen; sogar eine Grossbank wurde mit staatlichen Geldern vor dem Bankrott gerettet, um schlimmste Auswirkungen auf unsere Wirtschaft zu verhindern. Aus solchen Unterstützungen haben viele Menschen abgeleitet, ihnen stehe auch Geld vom Staat zu. Zum Beispiel in Form einer 13. AHV-Rente – obwohl bis heute unklar ist, wie diese finanziert werden soll. – Insgesamt zeigt sich zudem eine zunehmende Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft, und zwar in Bezug auf viele Themen. Das ist keine gute Entwicklung.
Wie lässt sich denn dieser Zusammenhalt konkret verbessern?
Wir müssen auf der Bildungsstufe anfangen, mit mehr Schüleraustausch-Möglichkeiten innerhalb des Landes. Die Schweiz ist sprachlich sehr divers; eigentlich ein grosser Vorteil gegenüber anderen Ländern. Doch wir machen zu wenig draus. Jugendliche kommen nur selten mit Jugendlichen aus anderen Sprachregionen in Kontakt. Dabei wäre es für alle ein Gewinn, eine weitere Landessprache oder zwei zu lernen. Ausserdem muss die politische Bildung gestärkt werden, denn es gibt aktuell nur gerade drei Kantone, in denen diese im Lehrplan explizit verankert ist. Viele junge Menschen wissen tatsächlich nicht, wie unsere Demokratie aufgebaut ist, wie Referenden, Volksinitiativen, Wahlen oder Abstimmungen genau funktionieren. Doch um die Demokratie zu erhalten und zu fördern, sind wir auf dieses Verständnis angewiesen. Zusammen mit SP-Nationalrat Eric Nussbaumer und anderen Kolleginnen und Kollegen aus Bern bin ich deshalb dabei, ein Informations-Zentrum auf die Beine zu stellen.
In Aarau gibt es bereits ein Demokratie-Zentrum. Worin liegt der Unterschied?
In der Tat gibt es in Aarau das Zentrum für Demokratie. Unsere Idee ist es, unweit des Bundeshauses in Bern ein Besucherzentrum zu schaffen, das von Schulklassen und auch von Touristinnen und Touristen interaktiv erkundet werden kann. Wir wollen, dass Demokratie für alle zugänglicher wird. Demokratie soll erlebbar gemacht werden. Es wird dort zum Beispiel möglich sein, die eigene politische Haltung konkret mit anderen zu vergleichen. So zeigen sich Unterschiede und Gemeinsamkeit in allen möglichen Bevölkerungsschichten.
Wie werden wir als Gesellschaft fit für die Zukunft?
Ich glaube, wir müssen offen und auch anpassungsfähig bleiben. Wir werden auch in Zukunft mit grossen Herausforderungen wie Kriegen oder Energiekrisen konfrontiert sein; denn die gab es schon immer. Die Gesellschaft wird sich den Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grad auch anpassen müssen, und wenn ich mir heute die jungen Leute ansehe, dann bin ich sehr zuversichtlich, dass uns das gut gelingen wird. Denn da gibt es viele junge Menschen, die innovative Lösungen für die Probleme unserer Zeit finden. Die Forschung in verschiedenen Bereichen schreitet weiter voran und wird uns auch in Zukunft unterstützen. – Ich habe einen Grundoptimismus in mir, der mich zuversichtlich stimmt. Trotz zweifellos grosser Herausforderungen.
Maja Riniker, 1978, vertritt den Kanton Aargau seit 2019 im Nationalrat, wo sie u.a. Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) ist. Am 2. Dezember 2024 wurde die FDP-Politikerin zur Nationalratspräsidentin und damit für ein Jahr zur höchsten Schweizerin gewählt. Maja Riniker lebt mit ihrem Ehemann und den drei Kindern in Suhr.
Bild: Hanna Siegel