Ziehen im Oberschenkel, Schmerzen im linken Knie. Toxische Männlichkeit, zumindest in Bezug auf den
Säurehaushalt der Beinmuskulatur. Dranbleiben! Dem Typen hinter mir gestehe ich so kurz vor der
Passhöhe kein Überholmanöver mehr zu. Die Lippen sind trocken, der Atem geht stossweise, das
Merinotrikot nimmt den Schweiss zuverlässig auf. Vorfreude auf die obligate Cola Zero auf einer
Scheitelhöhe von 2239 Metern.
Von Michael Schraner
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Sellaronda
Vier Pässe in rund 50 Kilometern und knapp 2000 Höhenmetern in grossartiger Szenerie. So grossartig, dass
ich die Umrundung des Sellamassivs über das Grödner-, Sella- und Pordoijoch sowie den Passo Campoluongo
zu Beginn meiner Dolomitentour im Uhrzeigersinn und eine Woche später nochmals im Gegenuhrzeigersinn
gefahren bin.
Nun folgen dreiunddreissig Kehren. Das Übergewicht als Beschleuniger, den Storm Chaser auf dem Kopf
um eine Achtelumdrehung festgezogen, die neue Fox Ranger-Jacke farblich perfekt abgestimmt auf den
Helm. Nichts peinlicher als knallbunte Radtrikots mit Werbeaufdrucken. 632 Höhenmeter abwärts und
immer wieder der Blick auf die Totenburg – brutale Architektur wie aus Herr der Ringe, letzte Ruhestätte für
8582 Gefallene des Grossen Krieges. Ein Schlagloch zwingt meinen Blick zurück auf die Strasse. Oh Mensch,
gib acht! Ich muss auflachen. YouTube servierte mir gestern Nacht die Sternstunde Philosophie, nachdem
ich mich durch alle Dolomitenvideos von Freeride Inc. Austria geklickt hatte.
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Extrem krass überwältigende Bike Tour rund um die 3 Zinnen | Freeride Inc. Austria Mountainbike & Ski
244.753 Aufrufe • 15.10.2020 • Für mich die beeindruckendste Biketour die ich je gemacht habe. Ich bin aus
dem Staunen von diesem unglaublich krassen Panorama überhaupt nicht mehr raus gekommen! Es war
einfach nur GEIL!
[Bild: Michael Schraner]
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SRF Kultur | Sternstunde Philosophie vom 26.09.2021
Barbara Bleisch im Gespräch mit Konrad Paul Liessmann über die Lust an der Fiktion, die Lust am Leben und
das Mitternachtslied aus Nietzsches «Also sprach Zarathustra».
Hat der Algorithmus Mahlers Dritte während des Anstiegs mitgehört? Der zerrissene, überdimensionierte
erste Satz – so klingt für mich, was ich hier sehe: Schroffe und zerklüftete Felswände, abweisend und
faszinierend, von erhabener Schönheit – und einfach viel zu gross. Was mache ich hier eigentlich? Ein
mickriger Punkt auf einer schmalen, geschlängelten Asphaltlinie. So gleichmässig strampelnd verschmelzen
Bewegungen und Gedanken ineinander.
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Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3
Mit Birgit Remmert, Tonhalle-Orchester Zürich, David Zinman (RCA/Sony, 2007)
In Zinmans hyperpräziser Notenfixierung fällt jede «Chaos»-Assoziation schwer, ja man wähnt sich über
weite Strecken in einer akkurat aufgeräumten Schweizer Bürgerstube, so blitzblank wird hier jedes Motiv,
und seien es auch die schrill-verfremdeten, präsentiert. […] Nicht zuletzt überzeugt der warme und
«grosse» Alt Birgit Remmerts, die um die «Tiefen» von Nietzsches Mitternachtslied weiss, ohne in falsches
Pathos abzugleiten. (RONDO-Magazin 1/2008)
Auf dem iPad lauschte ich gestern Nacht gleich gebannt wie die Moderatorin den Ausführungen
Liessmanns. Echt jetzt? Nur das Leid kann erinnert werden, die Lust nicht? Krasse These. Nietzsches
Mitternachtslied ist im vierten Satz von Mahlers Dritter vertont. Um diesen Text kreist Liessmanns neues
Buch. Ich schmunzelte in die Dunkelheit hinaus. So viel sprachgewandte Schöngeistigkeit über Lust,
Schmerz und über Liessmanns libidinöse Beziehung zu seinen Rennrädern. Carbon auf zwei Rädern mit
Fetischcharakter.
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Canyon Grail AL 7.0 mit Shimano GRX600 in Flat Green
Carbon liegt jenseits meines Budgets. Aber das Grail AL 7.0 ist ein grossartiges Gravelbike aus Alu mit cooler
Optik. Bei Rahmengrösse L erwies sich das Oberrohr für mich als ein Tick zu lang. Habe deshalb den
originalen Vorbau durch einen kürzeren Ritchey mit steilerem Winkel ersetzt. Nun fühle ich mich trotz
Bauchansatz wie ein Rennfahrer.
Nach der Biketour habe ich noch nicht genug. Am späten Nachmittag kehre ich mit dem Auto auf das
Pordoijoch zurück und erwische die zweitletzte Bergfahrt auf den Sasso Pordoi. Weltflucht per Seilbahn für
zehn Euro. Für mich ein guter Deal. Ich stehe nun zwei Stockwerke über der normalen Welt. Die unterwegs
im Outlet erstandene Wanderhose sitzt, die Sonne steht schon tief und taucht alles in mildes Licht.
Schönheit, die die Kehle zuschnürt. Beim zügigen Abstieg über die steilen Schotterpisten singt es in mir
unablässig when we walked in fields of gold. Ich bin froh darüber, in einer Apotheke im Tal noch gebrochen
qualcosa contre il dolore di biciclettista gestammelt und dabei auf meinen Hintern gezeigt zu haben. Die
Salbe tut wohl.
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Sting: Fields of Gold (1993)
Grossartiges Cover von Eva Cassidy. Sting nervt mich irgendwie. Alter weisser Mann, immer volle Kanne
sentimental. Oh! Mensch, ich merke gerade, dass er gleich alt war wie ich jetzt, als er den Song schrieb…
Das Grail inzwischen im Kofferraum festgezurrt, breche ich am Abend in Richtung Toblach auf. Hier war ich
schon mehrmals. Die Route führt an Monte Piana und Piano vorbei. Da haben sich Alpini und Kaiserjäger
gegenseitig die Gipfel unter den Schützengräben weggesprengt. In der dritten Kanti schrieb ich davon in
einem Aufsatz. Verstörend finde ich es auch heute noch. Meine Gedanken streifen durch das Höhlensteintal.
Plötzlich schwebe ich auf dem Rücken des Grail durch die Lüfte. Ich sehe unter mir eine gedrungene Gestalt,
einen Wanderstock in der Linken, ein Bein leicht nachziehend. Es scheint tatsächlich der Hofoperndirektor
zu sein. Stimmt, er verbringt hier die Sommerfrische seiner letzten Lebensjahre, erinnere ich mich. Er ist ein
Natursüchtiger, jetzt gerade hektisch im schattigen Talboden zu Fuss unterwegs. Ein Getriebener, nie zwei
Schritte im gleichen Tempo. Er hat sich wohl den Tag über in seinem Komponierhäuschen verschanzt, wo
er Weltabschiedsgesänge zu Papier bringt. Immer am Limit, alles ein Kampf. Wofür? Gegen wen? Was für
eine Lebensweise! Der wirkt wie einer, der es nicht mehr lange macht, denke ich. Er hat einst gesagt, seine
Zeit werde noch kommen.
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Robert Seethaler: Der letzte Satz (Berlin, 2020)
Robert Seethaler schildert Gustav Mahler (1860 – 1911) in seinem neuen Roman als verzweifeltes Genie, das
sich trotz aller Widerstände durchsetzt. […] «Nicht im Einzelnen ausführen» – das ist immer wieder die
Devise von Seethalers Erzählkunst. Aber sind die Motive und Antriebe der Menschen wirklich immer so
plakativ und holzgeschnitzt, wie es solche Sätze andeuten? (Deutschlandfunk, 4.8.2020)
Ich halte am Strassenrand und wende meinen Blick zurück zu den Drei Zinnen, deren Spitzen im letzten
Abendrot glühen, dann passiere ich den Dürrensee. Ein mit Schlaglöchern übersäter Pfad zweigt zum
Jugendstilhotel ab. Links davon führt die Hauptstrasse in mehreren Kehren hoch zum magischen Lago di
Misurina, rechts hört man selbst beim Eindunkeln in einiger Entfernung den Schwerverkehr nach Cortina
d’Ampezzo donnern. Aber hier in Schluderbach meine ich einen zarten Hauch von Zauberberg zu spüren.
Einfach mit weniger Tuberkulose, dafür mit Mehlspeisen.
Morgen wird die Cristallo-Gruppe umrundet. Im Uhrzeiger- oder Gegenuhrzeigersinn? Warten wir ab, was
die tiefe Mitternacht spricht. Ich hänge das Merinotrikot zum Auslüften vor das Fenster.
[Bild: Michael Schraner]
Michael Schraner erhielt für seinen Beitrag Carte blanche. Er schreibt über eine besondere Episode seines
Midlifestyles: Im Rahmen seines Dienstaltersgeschenks für 20 Jahre Unterrichtstätigkeit im Kanton
Aargau zog er sich in die Dolomiten zurück. Ganz allein unterwegs mit Gravel-, Mountainbike und
Wanderschuhen – dem eigenen Tempo folgend und mit Zeit für Dinge, die im Alltag zu kurz kommen.