Sham Dawit ist seit knapp zwei Jahren in der Schweiz. Sie ist aus Eritrea geflüchtet und schätzt die Schweiz sehr, denn sie hat hier die langersehnte Freiheit gefunden. Dennoch vermisst sie die Kultur und die Menschen von Eritrea. sage&schreibe hat mit ihr gesprochen.
Von Chiara Audia und Ella Jost, G2A
Sham flüchtete mit 16 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern und ihren fünf Geschwistern aus Eritrea in die Schweiz. Mittlerweile lebt sie fast seit zwei Jahren in der Schweiz und besucht eine erste Klasse der Alten Kanti in Aarau. Sie fühlt sich hier endlich frei und sieht eine Zukunft. Trotzdem hat die 18-jährige hier auch Schwierigkeiten: «Flüchtling zu sein ist nicht einfach, in einem anderen, noch unbekannten Land mit Leuten, die deine Geschichte nicht kennen», sagt sie ernst. Und sie fügt hinzu: «Den Namen ‘’Flüchtling’’ zu tragen ist sehr, sehr schwierig.»
Leben im Polizeistaat
Eritrea ist ein kleines afrikanisches Land am Roten Meer. Während mehr als 300 Jahren war es erst eine osmanische, dann eine ägyptische und schliesslich eine italienische Kolonie. In den 1940er-Jahren stand es unter britischer Verwaltung, bis es ins Kaiserreich Äthiopien eingegliedert wurde. Nach dreißig Jahren Unabhängigkeitskrieg wurde Eritrea 1993 endlich unabhängig. Das Land hat zwar offiziell eine demokratische Verfassung, aber die Regierungsform gleicht eher einer Diktatur. Der Präsident, Isayas Afewerki, ist Staatsoberhaupt und Regierungschef zugleich, seit 27 Jahren ist er Präsident. Wahlen gibt es keine, und es ist verboten, schlecht über ihn oder die Regierung zu reden. Die Eritreer haben Angst vor ihm. Auch Sham. «Er hat etwas in den Menschen verändert, indem er ihnen die Freiheit genommen hat», erklärt Sham. «Der Präsident lässt zum Beispiel ohne Begründung renommierte Privatschulen schliessen.» Bevor Sham in die Schweiz kam, wurde auch ihre Schule geschlossen und ihre Familie war gezwungen, für sie einen anderen Ausbildungsplatz zu suchen. Bildung sei etwas Gefährliches für die Regierung und den Präsidenten, sagt Sham. «Man will keine Menschen, die kritisch sind.» Die Regierung wolle viel lieber ein Volk, das auf der Strasse tanze, Menschen, die gedankenlos ihr Leben leben.
Shams Vater war lange Zeit Lehrer, doch plötzlich wurde er zumMilitärdienst verpflichtet.. «Keiner fragt wieso oder wozu, es ist einfach so», sagt Sham und erklärt, dass in Eritrea nach der Highschool alle militärpflichtig sind – egal, ob Mann oder Frau. Nach vielen Jahren Militärdienst ohne jede Zukunftsperspektive wurde es ihm und seiner Familie zu viel. Ein Jahr, bevor auch Sham zur Soldatin hätte werden sollen, sind sie geflüchtet.
Freiheit in der Schweiz
In der Schweiz lernte Sham nicht nur eine komplett neue Sprache und Kultur kennen, sondern sie hat auch eine ganz neue Seite von sich selbst entdeckt. «Früher war ich sehr ‘outgoing’; hier bin ich sehr introvertiert geworden. Aber langsam werde ich sicherer hier, auch weil ich die Sprache immer besser beherrsche», erklärt sie. Die ungewohnte Schweizer Mentalität hat aber auch Gutes bewirkt. So hat Sham hier das Lesen entdeckt. «In Eritrea kann man nicht ruhig an einem Ort lesen, es hat immer laute Musik, Hochzeiten auf den Strassen, es ist immer was los. Das ist das Leben dort. – Und hier die ruhige Schweiz. Es sind zwei verschiedene Welten.»
Auch wenn man sein Herkunftsland aus Angst um das eigene Leben verlässt, es gibt immer etwas, das man vermisst. «In der Schweiz lebt jede Familie für sich. In Eritrea sind die Leute zusammen, alle teilen sich irgendwie das Leben. Dieses Gefühl des Zusammenseins vermisse ich sehr.» Die allgemeine Reserviertheit der Schweizerinnen und Schweizer ist mit ein Grund, weshalb es Sham nicht leicht fällt, Kontakte zu knüpfen. «Als ich hier das erste Mal in einem Bus sass», erzählt sie mit einem Schmunzeln, «dachte ich, woah, sie sprechen die gleiche Sprache – warum reden sie nicht miteinander?»
Dass sie eines Tages wieder nach Eritrea zurückkehren wird, glaubt Sham nicht. Sie ist glücklich, den Weg in die Schweiz gefunden zu haben, und zuversichtlich, hier ihren Traum verwirklichen zu können und Psychologin zu werden.