Von Michael Schraner, Musiklehrer
I
Der Schweiss fliesst einfach aus mir heraus. Steige ich die drei Stockwerke in mein Schulzimmer hoch, scheint es mir, als würde ich nachheizen. Dann fliesst es aus allen Poren. Während eines langen Schultags sind Leinenhemden und Merinoshirts immerhin ein Teil der Lösung. Für die Nase. Aber im Spätsommer bei mehr als 30 Grad Zimmertemparatur hinterlässt der Schweiss seine Spuren auf jedem Gewebe. Die 99 Prozent Wasseranteil bilden grosse Flächen am Körper. Das eine Prozent an Salzen zeichnet hingegen bis zum Ende des Tages weisse Konturen, wie Küstenlandschaften am Rücken, der Brust, in der Armbeuge und den Kniekehlen.
II
An der Küste der Normandie trocknet der Schweiss beim Radfahren dank des Windes sofort. Wir sind in Arromanches-les-Bains. Hier begann vor 80 Jahren die Operation Overlord. Arromanches liegt am Küstenabschnitt Gold Beach. Die Landung der Alliierten eröffnete eine zweite Front gegen das Deutsche Reich im Westen und brachte somit der Roten Armee Entlastung beim Kampf gegen die Wehrmacht an der Ostfront. Der längste Tag, der 6. Juni 1944, klingt auf Französisch so sanft wie der Titel eines Bilds von Claude Monet oder eines Klavierstücks von Claude Debussy: Débarquement.
III
Wenige Tage nach der Landung haben die Engländer bei Arromanches den künstlichen Hafen Mulberry B angelegt. Die riesigen Phoenix-Elemente aus Beton wurden über den Kanal gebracht und als Wellenbrecher im Halbkreis vor der französischen Küste versenkt. Reste dieser Ungetüme ragen immer noch aus dem Wasser, über die Jahrzehnte stark zersetzt durch Stürme, Gezeiten und Brandung. Mitten am Badestrand von Arromanches liegt Pontoon 449. Ein zur Seite geneigtes Zwischenelement der langen Landungsbrücken. Beton und verrosteter Stahl – einfach magisch. Bei Ebbe wirkt das kräftige Grün des Algenbewuchses lebendig und die Abertausenden Muscheln bestimmen aus der Nähe die feine Textur der Oberfläche. Hier wurden in kürzester Zeit 628’000 Tonnen Nachschubgüter, 40’000 Fahrzeuge und 220’000 Soldaten an Land gebracht.
IV
Mitten im Ersten Weltkrieg verfasste der kanadische Lieutenant-Colonel John McCrae das Gedicht In Flanders Fields. Sein Freund war am Tag zuvor bei einem Granatenangriff gefallen. An die ersten Verse muss ich denken, während ich weitere Strandabschnitte des D-Day mit dem Rad erkunde: «In Flanders fields the poppies blow / Between the crosses, row on row.» Mit Klatschmohn gesäumte Weizen- und Flachsfelder ziehen sich bis an den Rand der Steilküste, und dort verschmelzen sogleich das Meer und der Himmel miteinander. Auf dem Weg zum Omaha-Beach passiere ich Marksteine der Liberty Road, dem über tausend Kilometer langen Mahnmal, das hier ganz in der Nähe beginnt und dem Strassenverlauf der Befreiung bis nach Bastogne in Belgien folgt. Die Remembrance Poppies, Mohnblumen aus Plastik, sind zum grossen Jubiläum allenthalben und in grosser Zahl zu sehen. Noch nicht von Regen und Sonne ausgebleicht, sondern strahlend in kräftig warmem Rot, an Steintafeln angebracht, als Kränze niedergelegt. Zum Gedenken an jene, die hier gekämpft haben und gestorben sind –em>< for the liberty of the world. Das ist die Flughöhe aller Inschriften hier.
V
Auf meiner inneren Leinwand tauchen kurze Sequenzen zweier filmischer Monumente auf, die in ihrer Darstellungsweise nicht konrastreicher sein könnten: zum einen die eher distanzierten Schwarzweissbilder aus The Longest Day (1962), zum anderen das Gemetzel aus nächster Nähe in Saving Private Ryan (1998). Ein schottischer Radfahrer spricht mich an. Er hat gerade realisiert, dass die Remembrance Poppies hier beim Mahnmal mit den drei Elementen The Wings of Hope, Rise, Freedom! und The Wings of Fraternity von einem Veteranenverein aus seiner Heimatstadt niedergelegt wurden. Er könne es einfach nicht fassen, was sich hier an diesem wunderschönen Strand einst abgespielt habe. Ich bin etwas überfordert.
VI
Den Krimi Fatherland, das Romandebüt von Robert Harris, habe ich als Jugendlicher gelesen. Die Handlung spielt 1964, in einem fiktiven Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie meine Familie bei diesem Szenario geworden wäre. Wie ich geworden wäre.
VII
Das Pathos, das den amerikanischen Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer umweht, ist schwer auszuhalten. Die 9’387 weissen Kreuze und Davidssterne strahlen eine kühle Ruhe aus und sind in ihrer Anordnung von einer überwältigenden Ästhetik. Die halbkreisförmige Säulenreihe des Portal of Freedom, die kunstvolle Statue, als allegorische Darstellung des Spirit of American Youth Rising from the Waves, und das grosse Becken mit klarem Wasser sind verstörend makellos. Hier liegen viele Jungs im Alter meiner Schüler. Tausende von Kilometern entfernt von ihren Freundinnen und Familien wurden sie am Atlantikwall aus MG-Nestern niedergemäht. Für die Freiheit geopfert. Der ganze Küstenabschnitt ist voll mit solchen Sätzen. In Stein gehauen, in Metall graviert.
VIII
Wieder in der Kühle des schönen Ferienhauses in Arromanches schaue ich beim Doomscrolling das neuste Video zum Project 2025 der Heritage Foundation. Es läuft mir kalt den Rücken herunter. Ein Kampfruf aus dem aktuellen US-amerikanischen Wahlkampf hämmert in meinem Kopf: We are not going back!
Bild: Michael Schraner
IX
Meine Kinder zitieren öfters aus Star Wars. Ein Dialog zwischen Anakin Skywalker und Obi-Wan Kenobi kommt mir vor dem Einschlafen in den Sinn:
«Don’t lecture me, Obi-Wan! I see through the lies of the Jedi. I do not fear the dark side as you do. I have brought peace, freedom, justice, and security to my new Empire!»
«Your new Empire?»
«Don’t make me kill you.»
«Anakin, my allegiance is to the Republic, to democracy!»
«If you’re not with me, then you’re my enemy.»
X
An einem schweisstreibenden spätsommerlichen Nachmittag sitze ich in meinem Schulzimmer am liebsten auf dem Klavierstuhl, weil ich dort nicht an einer Rückenlehne kleben bleibe. Ob das die Salzkonturen auf dem Hemd verändern würde? Ich versuche, meine Schülerinnen und Schüler trotz Hitze und fortgeschrittener Tageszeit für die Schönheiten des Dominantseptakkords zu begeistern. Vor einigen Jahren habe ich meine letzten Diensttage im Kompetenzzentrum Musik in Aarau damit verbracht, angehende Offiziere in Musiktheorie zu unterrichten. Landesverteidigung mit der Septime und dem Leitton zu einer Zeit, als ich dachte, Freiheit sei einfach automatisch da. Zuhause spüle ich mit einer kühlen Dusche die herausgeschwitzten Gedanken von mir ab.
Bild: Michael Schraner