2021, Aktuelles, Das zweite Gesicht, Essay, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 33

Masken im Schweizer Brauchtum

Wie wichtig sind unsere Bräuche heute noch? Manche geraten in Vergessenheit, andere werden immer noch von ganzen Regionen gelebt. Ganz besonders Bräuche, in denen Masken eine zentrale Rolle spielen, scheinen trotz (oder wegen!) ihrer jahrhundertelangen Geschichte nach wie vor im Trend zu sein. Worin also liegt die Faszination von Masken im Brauchtum? Und was verbirgt sich dahinter?

Von Valeria Tomassini und Selina Wick, G2A

Jahrhundertealte Bräuche, Berufe aus vergangener Zeit, die generationenübergreifende Pflege von Traditionen – für viele macht genau dies einen wesentlichen Teil der Schweizer Identität aus. Vor allem in ländlichen Gebieten scheint das helvetische Brauchtum einen hohen Stellenwert zu geniessen, was wohl auf die mehrheitlich konservative Einstellung einer vergleichsweise homogenen Bevölkerung zurückzuführen ist. Durch die Globalisierung hat das schweizerische Brauchtum hingegen besonders in den Städten an Bedeutung verloren. In jüngster Zeit erlebt es aber eine Art Revival. Vieles im heutigen Leben findet nämlich global statt, man ist international unterwegs. So entsteht ein verstärktes Bedürfnis nach Heimat, nach den Wurzeln. Traditionen schaffen Verbindungen über mehrere Generationen und sind somit etwas Vertrautes, das uns mit unserem Ursprung und mit anderen Menschen verbindet und nicht selten einer ganzen Region einen einzigartigen Charakter verleiht.
So scheint sich abzuzeichnen: Das Brauchtum wird weitergelebt, wenn auch teilweise in neuer, moderner Form. Masken sind als Bindeglied zwischen Gestern und heute perfekt geeignet. Sie transportieren Ur-Gefühle, zeitlose Empfindungen wie Furcht und Schrecken, und sie geben der Realität ein geheimnisvolles zweites Gesicht. Insofern sind Masken zeitlos modern. Es ist also wohl kein Zufall, dass maskendominierte Bräuche wie die Tschäggättä im Lötschental, die Silvesterchläuse im Appenzeller Hinterland oder der Pschuuri in Splügen sich bis heute grösster Beliebtheit erfreuen.

Tschäggättä, Lötschental
Tschäggättä sind Figuren der Fasnacht im Lötschental. Das Kostüm der Tschäggättä besteht aus einer Maske, die aus Holz geschnitzt ist, alten, umgestülpten Kleidern und darüber Ziegen- oder Schafspelze. Zusätzlich tragen die Tschäggättä eine Kuhglocke am Gurt.
Thomas Atonietti, Ethnologe und Kurator des Löschentaler Museums, kennt sich mit der Geschichte des wichtigsten Lötschentaler Volksbrauchs aus. «Ursprünglich liefen die Tschäggättä während der Fasnacht jeden Nachmittag in kleinen Gruppen durch das Dorf», erklärt er. «Sie erschreckten die Frauen und Kinder und beschmierten sie mit Russ.» Unter den Furcht einflössenden Masken verbargen sich junge, ledige Männer, die durch das Beschmieren mit Russ insbesondere den Kontakt zu jungen Frauen suchten.. – Über die Jahrzehnte entwickelten sich die spontanen Maskenläufe zu organisierten Umzügen. Und Antonietti ergänzt: «Erst seit etwa 1970 dürfen sich auch Frauen und Kinder verkleiden.»
Es kursieren mehrere Legenden zur Entstehung der Lötschentaler Holzmasken, keine ist jedoch wissenschaftlich bewiesen. Nachgewiesen ist jedoch, dass sie spätestens im 19. Jahrhundert Teil der «Tschäggättä» sind. Um 1900 gelangen die Masken in die Museen der Schweiz und im Ausland.
Und was bedeutet eigentlich der Name «Tschäggättä»? Antonietti sagt: «Der Name ‹Tschäggätta› (Mehrzahl «Tschäggättä›) kommt vermutlich vom ursprünglich gescheckten Fell der Maskenfiguren. Im lokalen Dialekt heisst ‹gitschäggut› so viel wie gefleckt, zum Beispiel ‹gitschägguts Vee›, also geflecktes Vieh.»

[Bilder: Lötschentaler Museum, St. Galler Tagblatt und Brauchtumsmuseum Urnäsch]

Silvesterchlausen, Appenzell
Der Ursprung der Appenzeller Silvesterchläuse ist nicht bekannt. Erstmals erwähnt wurden sie 1649. Zuerst fand das Chlausen während der Adventszeit statt, wurde dann aber aus religiösen Gründen auf Neujahr verschoben. Der über solche andere historischen Details Bescheid weiss, heisst Walter Frick und ist kuratorischer Mitarbeiter im Museum Urnäsch. Das Wort «Chlaus» im Begriff geht vermutlich zurück auf einen Nikolaus-Brauch. Zu Beginn war die Verkleidung noch sehr einfach. Auf den ältesten Fotos tragen die «Chläuse» einen Lappen aus Leder, mit jeweils drei Löchern für Augen und Mund.
Es gibt drei Arten von Silvesterchläusen: die «Schöne» (farbige Larven mit Samtgewändern), die «Wüeschte» (dämonische Larven aus Naturmaterialien) und die «Schö-Wüeschte» (Mischung aus beiden).
Die aufwändigen Vorbereitungen dauern oft ein ganzes Jahr. Die einzelnen Chlausen-Gruppen beziehungsweise «Schuppel» wählen ihr Thema selbst, unabhängig von den anderen Schuppeln und kreieren die passenden Hauben und Hüte. Am grossen Tag wählt dann jeder Schuppel wählt seine eigene Route durchs Dorf, den «Strich», der für die anderen unbekannt bleibt. «Niemert weiss, wenn d Chläus chömed», sagt Walter Frick, «sie chömed, wenns chömed». Dann ziehen ziehen sie von Haus zu Haus, machen Lärm mit ihren Schellen. Zwischen dem Schellen singen sie einen Naturjodel, «es Zäuel». Am Schluss gibt man sich die Hand und wünscht allen ein gutes, neues Jahr. Die Chläuse tragen bis zu 30 Kilogramm mit sich, machen bis zu 20 km und sind bis zu 20 Stunden unterwegs.

Pschuuri, Splügen
Pschuuri (von pschuure = dreckig machen, verschmutzen) ist ein 700 Jahre alter Bündner Brauch, der in den Walsergebieten, insbesondere in Splügen, bis heute gelebt wird. Gemäss Richard Hänzis «Dr Splügner Pschuuri» aus dem Jahr 1994 verjagt der Fasnachtsbrauch menschenfeindliche Dämonen und weckt die Kraft der Liebe.
Pschuuri wird immer am Aschermittwoch gefeiert. Die Jungs rüsten sich am Morgen mit einem Stofflappen aus, welcher mit Russ und Fett beschmiert ist. Sie ziehen sich ihre Fellmasken über den Kopf, und dann geht’s los. Am Vormittag ziehen die Vorschulkinder durchs Dorf und betteln: «Pschuuri, Pschuuri Mittwuchä, äs Eischi oder äs Meitschi.» Allerdings betteln sie nicht um Eier (Eischi), sondern um Süssigkeiten. Am Nachmittag sind dann die jungen Männer, die sogenannten Pschuurirolli, an der Reihe. Sie sind auf der Suche nach Schulkindern und ledigen jungen Frauen, deren Gesicht sie mit Russ vollschmieren – sofern sie sie erwischen. Auch als Touristin muss man sich übrigens vor den Pschuurirolli in Acht nehmen, niemand wird verschont.
Bis zum Eindunkeln müssen alle Opfer «pschuuret» (also geschwärzt) sein. Dann werden die Pschuurirolli zu Pschuuribättlern. Als «Männli und Wiibli» verkleidet, ziehen sie von Tür zu Tür und verlangen – wie die Kinder am Vormittag: «Äs Eischi oder äs Meitschi.»
Mit den gesammelten Eiern (und zusammen mit den «gesammelten» Mädchen!) bereiten die Pschuuri nach Mitternacht ein Festessen mit lauter Eierspeisen und mit Eierlikör zu.
Nachdem der Brauch kurzzeitig in Vergessenheit geriet, ist er heute wieder sehr lebendig und zieht viele Besucher an.

[Bilder: Lötschentaler Museum, St. Galler Tagblatt und Brauchtumsmuseum Urnäsch]