Alte Kanti, Interview, Menschen, Sage & Schreibe Nr. 25

„Menschlichkeit und Echtheit im Umgang“

Seit bald 19 Jahren ist Dr. Martin Burkard Rektor der Alten Kanti

Pensen und Quoten, ob MAR oder GAL, der Rektor der AKSA hat in den letzten Jahren so einiges miterlebt – und vieles an dieser Schule mit geprägt. Martin Burkart hält wenig von einem kurzsichtigen Utilitarismus, dafür umso mehr von einer vertieften Allgemeinbildung.


[Bild: Markus Suter]

„Sic transit gloria mundi“ – der Ausspruch soll nun ziemlich genau fünfhundert Jahre alt sein, doch er erscheint aktueller denn je. Ihnen, Herr Burkard, kann man da als ehemaligem Lateinlehrer nichts vormachen. Was aber verbinden Sie mit diesem Zitat spontan als langjähriger Rektor der Alten Kanti?

Dr. Martin Burkard: Zunächst natürlich sehr schöne Erinnerungen an meine Unterrichtstätigkeit in einem hoffentlich für alle Beteiligten sehr interessanten und dankbaren Fach. Diese Zeit liegt aber schon einige Jahre zurück. Die Bedeutung des Lateins am Gymnasium und auch an der Alten Kanti Aarau ist heute nicht mehr dieselbe wie in den vielen Jahren, in denen ich das Fach unterrichten durfte, und erst recht nicht wie in der Zeit, als ich selbst Schüler an dieser Schule war. Immerhin können wir Latein immer noch sowohl als Akzentfach und Schwerpunktfach wie auch als Freifach führen. Aber mit diesen Ausführungen ist ja Ihre Frage, die viel offener gestellt ist, nicht beantwortet. Ist mit ihr sogar eine kleine Falle gestellt? Gloria mundi – soll mich der Ausdruck dazu verführen, vom Ruhm und guten Ruf der Alten Kantonsschule Aarau in vergangenen Zeiten zu schwärmen und ihnen eine eher triste Aktualität gegenüberzustellen?

Nun, wann immer Peter Bichsel parodiert wird, kommt die Klage zum Ausdruck: „S isch nüm wie früener!“ Bleiben wir doch noch einen Moment in der Vergangenheit, bevor wir uns dem Heute und dem Morgen stellen. Sie waren damals am neuen Maturitäts-Anerkennungsreglement (MAR) aktiv beteiligt; und das war ja doch der Anfang vom Ende des Lateins. Wie schwer wiegt in Ihren Augen dieser Verlust?

Burkard: Sicher hat das MAR die Schwächung der einst starken Position des Lateins wesentlich beeinflusst. Ich nehme aber an, dass die negative Entwicklung des Wahlverhaltens der Schülerinnen und Schüler für dieses Fach auch eine Zeiterscheinung ist, die unabhängig vom MAR eingetreten wäre. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass ein qualitativ hochstehender und dem heutigen Lernumfeld angepasster Lateinunterricht grosse Relevanz für die Bildung auf progymnasialer Stufe und am Gymnasium haben kann. Insbesondere dann wiegt ein Verlust in diesem Bereich schwer, wenn er in andern Fächern wie Deutsch, Geschichte, Fremdsprachen und Philosophie nicht kompensiert wird bzw. werden kann.

Die Veränderungen an einer Schule wie der Alten Kanti betreffen ja nicht nur den Fächerkatalog, sondern auch die Menschen, die hier arbeiten. Der Hauswart von vor vielleicht zwanzig Jahren lässt sich mit dem heutigen Dienstleistungsapparat, der die Infrastruktur in Schuss hält, nicht mehr vergleichen. Der Rektor von vor zwanzig Jahren hat wohl mit dem heutigen Anforderungsprofil eines Schulleiters auch nicht mehr viel zu tun. Was hat sich bei Ihrer Arbeit besonders stark verändert?

Burkard: Ich habe mein Amt im Sommer 1998 angetreten. Die bedeutendste und folgenreichste Veränderung in den vergangenen bald 19 Jahren erfolgte 2005, als das Gesetz über die Anstellung von Lehrpersonen (GAL) eingeführt wurde. Im Rahmen der darin enthaltenen Bestimmungen wurde auch die Rolle der Schulleitung und des Rektors neu definiert und deren Stellung markant gestärkt. Insbesondere wurden aber durch das GAL und die darauf basierenden Folgeerlasse der Berufsauftrag und die Jahresarbeitszeit der Lehrpersonen klarer als bisher beschrieben und festgelegt. Diese notwendigen, aber nicht überall beliebten Anpassungen waren und sind die Folge veränderter Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft an die Schule. Deren Umsetzung durch die Realisierung des GAL bleibt bis heute eine schwierige und nicht vollständig bewältigte Aufgabe an unseren Schulen. Dies betrifft auch meine tägliche Arbeit an der Alten Kanti.


[Bild: Markus Suter]

Wählen Sie denn seither neue Lehrpersonen für die Alte Kanti nach anderen Kriterien aus? Und noch etwas präziser gefragt: Welches ist denn aus Ihrer Sicht die wichtigste Eigenschaft, die eine Lehrperson heute haben muss, um hier mit Freude zu bestehen?

Burkard: Zur ersten Frage: nein, das glaube ich nicht. Ich hatte schon früher dieselben Überzeugungen und Vermutungen über das, was eine erfolgreiche, zufriedene und letztendlich glückliche Lehrperson ausmacht. GAL hat in dieser Hinsicht nur eine längst bestehende Realität klarer und umfassender abgebildet. An der Mittelschule ist sicher die Fachkompetenz ein ganz wichtiger und absolut notwendiger Pfeiler für ein stufengerechtes Unterrichten. Der Master-Abschluss im jeweiligen Fachbereich ist die dafür unverzichtbare Voraussetzung. Ebenso entscheidend sind aber die Freude am Vermitteln des Wissens und ganz besonders hohe Einfühlsamkeit in die Lern- und Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler und schlicht Menschlichkeit und Echtheit im Umgang mit den jungen Menschen. Wenn Lehrpersonen vereinzelt Schwierigkeiten haben in ihrem Beruf oder gar scheitern, liegt es gemäss meinen Erfahrungen fast immer im letztgenannten Bereich.

Die Veränderungen im „Lehrkörper“ sind augenfällig. Nur noch eine Minderheit unterrichtet heutzutage ein volles Pensum, auch hat der Frauenanteil stark zugenommen. Welche Konsequenzen hat das für die Personalführung, für die Organisation des Schulbetriebs?

Burkard: Ihre Aussage zur aktuellen Struktur des Lehrpersonenkollegiums an der Alten Kanti ist richtig. Diese Struktur ist neben dem oben erwähnten GAL ein wichtiger Grund dafür, dass der Organisationsaufwand für das Personal gegenüber früher markant zugenommen hat. Dies betrifft vor allem die möglichst adäquate und gerechte Verteilung der Arbeitsbelastungen und die Stundenplangestaltung bei einem Kollegium mit verschiedenen Pensengrössen, unterschiedlichen Belastungen durch das familiäre Umfeld, entsprechenden Einschränkungen in der Flexibilität und langen Arbeitswegen. Die ab und zu geäusserte Vorstellung, dass auf diesbezügliche organisatorische Massnahmen bei der Personalführung weitgehend verzichtet werden könnte und sich hier wie früher schon alles gleichsam von selbst lösen würde, betrachte ich als Illusion.

Nun, das klingt ein wenig „blumig“; ich will also direkter fragen: Was bedeutet dieser Wandel für das Image der Lehrpersonen an einem Gymnasium – sowohl in gesellschaftlicher wie auch politischer Hinsicht? – Ich möchte gern daran festhalten, dass es sich um das wichtigste Personal an einer Schule überhaupt handelt …

Burkard: Da bin ich natürlich ganz einverstanden. Aber gerade weil die Lehrpersonen so wichtig sind, ist es bedeutungsvoll, dass sie richtig ausgewählt und gut eingesetzt werden. Das betrifft die Leitung und Organisation einer Schule, und bezüglich dieses Aspekts habe ich auf Ihre letzte Frage geantwortet. Die Art der Zusammensetzung unseres Lehrpersonenkollegiums – mit ausgeglichenen Frauen- und Männeranteilen und einem hohen Anteil an Teilpensen, wobei aber hohe Teilpensen mit über 60% deutlich überwiegen – ist meines Erachtens kein Nachteil für das Image dieses Berufs. Und auch die politische Bedeutung der Mittelschule hängt kaum davon ab. Dass an einer Schule wie der Alten Kanti Frauen und Männer auch mit Teilpensen arbeiten können, zeugt von gesellschaftlicher Aufgeschlossenheit und sollte heute selbstverständlich sein. Dass dabei das Wohl der Schule dem persönlichen und familiären Interesse der Lehrpersonen übergeordnet werden muss, ist klar.

Apropos scheitern: Täuscht der Eindruck oder sind es heute tatsächlich viel weniger Schülerinnen und Schüler, die vorzeitig die Alte Kanti verlassen (müssen) – als vielleicht noch vor zwanzig Jahren?

Burkard: Nein, die Zahlen sprechen da eine andere Sprache. Es waren und sind insgesamt sehr wenige Schülerinnen und Schüler, welche den angestrebten Abschluss an der Mittelschule nicht erreichen und den Bildungsgang deshalb vorzeitig abbrechen. Ganz besonders gilt dies für die Probezeit in der 1. Klasse, die von vergleichsweise sehr wenigen Schülerinnen und Schülern nicht bestanden wird. Es wird sich im nächsten Schuljahr zeigen, ob dies auch nach der Veränderung der Übertrittsbedingungen (Wegfall der Abschlussprüfung an der Bezirksschule) so bleibt.

Das Verhältnis aber von jenen, die eine Matura anstreben, zu jenen, die eine Berufslehre antreten, hat sich stark zugunsten des Gymnasiums verändert. Immer mehr junge Menschen suchen den Zugang zu den Hochschulen. Allerdings sehen in diesem Trend nicht alle eine gute Entwicklung. Wie stehen Sie dazu?

Burkard: Was die gesamtschweizerische Situation bezüglich Ihrer Fragestellung betrifft, kann ich verstehen, dass man dieser Entwicklung mit Skepsis begegnet. Im Aargau sieht die Sache anders aus. Bei uns bewegte sich die Maturandenquote bereits vor knapp zwanzig Jahren auf dem heutigen Niveau und fiel zwischenzeitlich auf einen sehr tiefen Wert. Wir hatten also in den letzten Jahren auch eine moderate Erhöhung der Quote, liegen aber immer noch recht deutlich unter dem Durchschnittswert für alle Kantone. Auch im Hinblick auf die Chancengerechtigkeit der aargauischen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bzw. Studentinnen und Studenten, vor allem auch gegenüber ausländischen Akademikerinnen und Akademikern, die in der Schweiz Arbeit finden, kann eine Senkung der Maturandenquote in unserem Kanton kein Thema sein.

Wechseln wir von der Verpackung zu den Inhalten: In den letzten Jahren war viel von „Kompetenzen“ die Rede, sprich was Schülerinnen und Schüler mit einem Mittelschulabschluss alles können sollten. Ein neueres Schlagwort lautet „basale Kompetenzen“. Gemeint ist das sprachliche wie auch mathematische Fundament, das anscheinend nicht mehr genügend ausgebildet sei. Gemeint sind auch Grundkenntnisse in der Informatik, wozu auf dieses Schuljahr hin an der Alten Kanti eigens die Informatik als Grundlagenfach eingeführt worden ist. Warum aber hapert es am Rechnen und Schreiben?

Burkard: Diese Frage ist als idealer, aber auch für einen Stürmer (fussballerisch verstanden) nicht unproblematischer Steilpass gestellt. Es hapert bei manchen, wohl zu vielen Mittelschulabsolventinnen und -absolventen beim Rechnen und Schreiben, weil wir uns hier nicht (mehr) auf die Vorbildung aus der Primar- und Sekundarstufe I verlassen und stützen können. Die entsprechenden Fundamente in den genannten Bereichen müssten aber aus sehr guten Gründen hier gelegt werden. Reformen in dieser Hinsicht sind dringend nötig. Verpasstes kann nicht beliebig auf der Sekundarstufe II, insbesondere am Gymnasium, nachgeholt werden. Das ist nicht der richtige Ort dafür, und zwar sowohl in Bezug auf das Alter der Schülerinnen und Schüler als auch auf den Bildungsauftrag dieser Stufe bzw. dieses Schultyps. Andererseits jedoch darf der Schwarze Peter nicht vorschnell und ohne die notwendige kritische Haltung gegenüber uns selbst an andere weitergegeben werden. Ich bin überzeugt, dass die Inhalte aller gymnasialen Fächer periodisch überprüft und allenfalls zu Gunsten einer deutlicher auf die allgemeine Studierfähigkeit unserer Maturandinnen und Maturanden ausgerichteten Ausbildung angepasst, aktualisiert und gegebenenfalls auch reduziert werden sollten. Hier müssen die Lehrpläne mehr denn je eine wichtige Funktion erfüllen.

Sind konkrete Massnahmen an der Alten Kanti in Planung? Sollte zum Beispiel die deutsche Sprache auch in anderen Fächern gepflegt und gezielt gefördert werden? Gar Beurteilungskriterium in Geografie- oder Geschichtsprüfungen sein?

Burkard: Die Planung an unserer Schule ist noch nicht konkret. Aber selbstverständlich gibt es bereits seit einiger Zeit Vorüberlegungen dazu, vor allem in der Fachschaft Deutsch. Die Umsetzung des Konzepts zu den basalen Kompetenzen wird aber zunächst auf der Ebene des Bildungsraums Nordwestschweiz und dann der Aargauischen Rektorenkonferenz in Angriff genommen. Die Voraussetzungen bei Mathematik und Deutsch sind unterschiedlich, was sich auf die Realisierung in den beiden Bereichen auswirken wird. Ich bin aber überzeugt, dass für die Sicherung der basalen Kompetenzen in der Muttersprache nicht nur der Deutschunterricht, sondern auch viele übrige Fächer am Gymnasium Beiträge werden leisten müssen.

Was wären – Ihrer Ansicht nach – die richtigen Massnahmen? Dürrenmatt und Camus dürften wohl nicht aus dem Lehrplan gestrichen werden (Anm. der Redaktion: Martin Burkard beschäftigte sich in seiner Dissertation vornehmlich mit diesen beiden Autoren). Wie sieht Ihre Prognose für die Zukunft aus … von wegen sic transit gloria mundi?

Burkard: Über konkrete Massnahmen im Fach Deutsch, zum Beispiel über eine stärkere Gewichtung formaler Aspekte, kann ich an dieser Stelle noch nichts sagen. Sie geben aber ein gutes Stichwort: Der Literaturunterricht ist am Gymnasium unverzichtbar. Ein kurzsichtiger Utilitarismus ist für diesen Schultyp Gift und höhlt ihn letztlich aus. Dies gilt nicht nur für die Sprachfächer, sondern für alle Bereiche im Hinblick auf eine vertiefte Allgemeinbildung. Eine solche darf auch nicht als elitär in einem negativen Sinn missverstanden werden. Das heisst ja nicht, dass die gymnasiale Allgemeinbildung gleich auf die Ebene der gloria mundi gehoben werden muss. Vorübergegangen und dem Untergang geweiht – sic transit – ist sie nicht, auch wenn beim „Stammtisch-Gerede auf die Gymis eingedroschen“ wird, wie der Journalist Felix E. Müller unlängst in der NZZ am Sonntag schrieb (Ausgabe vom 9. April 2017).

Das Gespräch führte Markus Bundi