Assunta Amatucci ist gelernte Sexualbegleiterin und Berührerin für Menschen mit Beeinträchtigung. Wir haben die 55-Jährige in ihrer Praxis in Solothurn besucht, um mehr über diese noch immer weitgehend tabuisierte Arbeit zu erfahren. Wir wollten wissen, wie sie mit ihren Klientinnen und Klienten umgeht und was für sie Nähe bedeutet.
Von Olivier Schade und Johannes Voss, G19A
Was genau ist eine Berührerin?
Grundsätzlich geht eine Berührerin oder ein Berührer auf die individuellen Bedürfnisse des Klienten oder der Klientin ein: eine Hand auf den Rücken legen, eine Hand- oder Fussmassage, es kann den ganzen Körper beinhalten, es kann nackt oder bekleidet stattfinden, es kann aber auch nur ein Gespräch sein. Immer geht es darum, diesen Menschen mit Behinderung oder Senior(inn)en etwas zu geben, was sie nirgendwo sonst bekommen können.
[Bild: Olivier Schade]
Gibt es dafür eine spezifische, anerkannte Ausbildung?
Ja, das ist die Ausbildung als Sexualbegleiter/-in. Berührer/-in können sich alle nennen, nicht aber Berührer/-in nach InSeBe (Initiative SexualBegleitung). InSeBe ist eine von mehreren Organisationen, welche die Ausbildung als Sexualbegleiter/-in anbieten.
Wie haben Sie zu diesem Thema gefunden?
Vor etwa 20 Jahren habe ich ein Interview mit einer Berührerin gehört und bin so aufmerksam geworden auf diesen Beruf. Ich fand die Thematik einfach sehr interessant und wichtig. Ich habe jedoch erst 10 Jahre später die Ausbildung als Sexualbegleiterin absolviert.
Wie ist der Austausch mit den Verbänden für Menschen mit Einschränkungen oder ältere Menschen?
Ich werde oft angefragt von diversen Institutionen, zum Beispiel von der Spitex, von kantonalen Anlaufstellen für Menschen mit Beeinträchtigung oder von Altersheimen. Diese Verbände sind sehr froh, dass ein Angebot für Sexualbegleitung besteht, auf das die Verbände verweisen können, wenn sie darauf angesprochen werden.
Sexualität von beeinträchtigten Menschen ist noch immer ein Tabuthema in der Gesellschaft.
Ich bin sehr offen dem gegenüber, sonst würde ich den Beruf nicht ausüben. Jeder Mensch braucht Nähe. Es gibt Menschen, die sich ausdrücken und ihre Bedürfnisse selbst befriedigen können, aber es gibt eben auch Menschen, die sich gar nicht oder kaum ausdrücken können. Daher ist es richtig und wichtig, dass auch diese Menschen Nähe erfahren dürfen. Dies sollte kein Tabu, sondern eine Selbstverständlichkeit sein. Immerhin stelle ich eine wachsende Offenheit und zunehmendes Verständnis in der Gesellschaft fest.
Wie sieht Ihr Alltag als Berührerin aus?
Ich habe durchschnittlich zwei Klienten pro Tag, mit denen ich jeweils etwa eine Stunde verbringe. Meistens gibt es am Anfang ein Telefonat, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Wenn der Klient dann das Gefühl hat, es stimmt für ihn, dann kommt er für ein Gespräch, je nach dem zusammen mit einer Betreuungsperson, und entscheidet dann spontan, ob er direkt mit dem Berühren anfangen möchte oder ein anderes Mal vorbeikommt.
Stumpft man bei so viel Nähe mit Unbekannten mit der Zeit ab?
Nein, es ist immer anders, denn jeder Mensch ist anders. Ich habe kein striktes Programm, da ich mich jeweils ganz auf den Menschen und dessen Gemütszustand einlasse.
Was bedeutet Nähe für Sie?
Nähe ist Nahrung für den Körper, auch ich brauche Nähe, aber ich darf sie mir natürlich nicht bei meinen Klienten holen, das wäre unprofessionell und ein Missbrauch meiner Funktion. Die Rollenverteilung muss immer klar sein: Ich bin da für den Klienten, und nicht umgekehrt.
Entsteht beim Berühren auch emotionale Nähe?
Auf jeden Fall, vor allem wenn man eine Person über einen längeren Zeitraum begleitet, das gibt eine Verbindung. Man erzählt auch von Privatem und führt, falls möglich, normale Gespräche. Man erzählt von den Ferien – oder die Klienten erzählen, was sie gerade belastet.
Was geben Ihnen die Klienten zurück?
Das ist eine gute Frage. Erfahrung, ich lerne immer etwas Neues. Es ist auch eine Reflexion für mich selbst, und das empfinde ich als sehr wertvoll.
Wo liegen für Sie die Grenzen zwischen Geben und Nehmen?
Die Grenzen definiert man gemeinsam, der Klient sagt, was er will und was er nicht will, und ich mache dasselbe. Geschlechtsverkehr gibt es keinen. Das ist privat.
Wo liegt der Unterschied zwischen einer Berührerin und einer Prostituierten?
In der Sexualbegleitung kann fast alles oder nichts passieren. Die Klienten werden individuell behandelt. Ich biete keine käufliche Dienstleistung im Bereich Sexualität, sondern hinter meiner Arbeit steht ein therapeutischer Ansatz. Deshalb braucht es für die Begleitung ja auch eine Ausbildung.
Im Hinblick auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Sexualbegleitung scheint mir wichtig, dass man über die Thematik spricht. Was heisst Selbstbestimmung des Menschen? Wer hat ein Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit? Wieso sollen geistig oder körperlich behinderte Menschen oder Senior(inn)en kein Recht auf Sexualität haben? Das sind wichtige Fragen, und darüber müssen wir reden. Es ist essenziell, dass man dabei keine Vorurteile hat und das Ganze nicht einfach schubladisiert. Jeder sieht die Welt mit seinen eigenen Augen, aber es ist trotzdem wichtig, dass man offen und mit Interesse an das Thema herangeht.
[Bild: Olivier Schade]
Zertifizierte Sexualbegleiter/-innen oder Berührer/-innen ermöglichen es geistig oder körperlich eingeschränkten Menschen und Senior/-innen, in einem therapeutischen Rahmen ihre Sexualität ausleben zu können. Dahinter steht die in der Gesellschaft noch nicht überall akzeptierte Überzeugung, dass jeder selbstbestimmte Mensch ein Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit auch auf Sexualität hat.