2022, Aktuelles, Essay, Im Fokus, Kultur, Nähe, Sage & Schreibe Nr. 35

Nähe und Distanz im Nanokosmos oder Warum der Kopf nicht durch die Wand geht

Von Dr. Michael Schär, Chemielehrer

Plötzlich waren sie da: Die Abstandsregeln während der Corona-Pandemie. Fast gebetsmühlenartig wurden sie wiederholt: 1.5 Meter zwischen zwei Personen (hierzulande) – mehr Nähe musste vermieden werden. Doch egal, wieviel Nähe erlaubt ist, zuletzt gelten sowieso die ‹Abstandsregeln› des Nanokosmos. Dazu gehört, dass Atome einander nicht durchdringen wollen und zueinander auf Distanz gehen, wenn sie sich nicht verbinden können. Ausschlaggebend dafür sind ihre Hüllen mit Elektronen, welche sich gegenseitig abstossen.

Gecko an der Wand, wer ist der beste Kletterer im Land?
Doch Atome verspüren genauso wie wir Menschen nicht nur Hemmung, sondern auch Attraktion. Und kommen sie sich etwas näher, geschieht manchmal auch Wunderliches. Elektronen bewirken nämlich nicht nur Abstossung, sondern indirekt über Fluktuationen der Ladungsverteilung auch den Zusammenhalt von kleinsten Teilchen: ‹Van-der-Waals-Kräfte› nennt sich dies im Fachjargon. Ohne diese würde sich so manche Kunststoffpackung gleich verflüchtigen. Ihnen verdankt der Gecko, dass er Wände erklimmen kann und selbst bei einer Last von 10 Kilogramm noch an der Decke haftet. Eine ausgeklügelte Nanostruktur am Fuss des Geckos mit Milliarden feiner Haare multipliziert die Oberfläche so dramatisch, dass mit der Nähe zur Wand auch gigantische Anziehungskräfte auftreten. (Abb. 1) Lange liess die passende grosstechnische Umsetzung der Bionik nicht auf sich warten: Das Klebeband nennt sich Gecko-Tape®. Zusammen mit weiteren zwischenmolekularen Kräften zeichnet diese Anziehung auch verantwortlich für die Molekulare Erkennung im Nanokosmos (z.B. Enzym-Substrat-Erkennung) und die Selbstorganisation in der Biologie (z.B. Zusammenhalt der Biomembran).


[Bild: Michael Schär]

Kernfusion
Was aber, wenn das Atom sich aller Elektronen entledigt hat, also sozusagen seine Hülle fallen lässt? Dann verbleibt noch die Kernabstossung. Geht es noch näher? Ein Blick zum Abendhimmel gibt Aufschluss darüber…
Das Licht von Sternen, Supernovas und Roten Riesen, über schier unendliche Weiten des Universums zu uns getragen, beweist es uns tagtäglich: Atomkerne können verschmelzen! Zwei werden zu einer neuen Einheit; dieser lichtbringende Prozess geschieht aber nur, wenn es sehr hitzig zugeht und bei grosser Nähe. Was im Nanokosmos Gravitation und Kernkräfte vollbringen, schafft bei uns Menschen die Liebe – und auch hier entsteht des Öfteren aus zwei Elementen ein neues…


[Bild: Serpil Boz, Universität Basel, und Michael Schär, ETH Zürich]

Geht der Kopf durch die Wand?
Nun zur Titelfrage: Fusioniert also der Kopf mit der Wand, wenn unsereins mal mit dem Kopf durch die Wand will und ihm genügend Energie gibt, um die Kern-Kern-Abstossung zu überwinden? Die Frage ist ziemlich unerheblich – eher stellt sich die Frage, was dann Kopf ist und was Wand? Denn bei Millionen von Grad Celsius ist jeglicher chemische Zusammenhalt dahin. Ein ungeordnetes Allerlei von Atomen innerhalb eines plasmatischen Einheitsbreis – eine groteske, ja geradezu höllische Vorstellung.
Dem arbeitet unter Alltagsbedingungen die gegenseitige Abstossung der Elektronenhüllen der Atome entgegen und stellt so eine natürliche Hemmschwelle dar; solange sie auf Abstand bleiben, können sie sich nicht durchdringen – geschweige denn fusionieren. Wir sprechen hier von kürzesten Distanzen in der Grössenordnung von 10-10 Metern, was in etwa der Summe der betroffenen Atomradien entspricht.

Das Einsperren des Elektrons und der Atomradius
Wenn man dem Begriff ‹Atomradius› auf den Grund geht, findet man sich in einer recht diffusen Situation wieder: Die Unschärferelation von Heisenberg lässt das ‹Einsperren› der Elektronen (bestimmter Energie) innerhalb absoluter Grenzen gar nicht zu. Schon im frühen Erwachsenenalter hat mir dies gehörig Kopfzerbrechen bereitet: Wo ist denn der Rand des Atoms, wenn das quirlige Elektron zwischendurch auch weiter aussen ‹Urlaub› machen kann? Für gebundene Atome kommt es noch bunter: Je nach chemischem Bindungstyp werden unterschiedliche Arten von Atomradien eingesetzt: Metallradien, Ionenradien, Kovalenzradien beziehungsweise Van-der-Waals-Radien. Bei dieser Vielfalt an voneinander abweichenden Grössen war es für mich immerhin tröstlich zu wissen, dass die Elektronen sich mit bestimmter Wahrscheinlichkeit in vorgegebenen Wolken aufhalten – besonders aber beim Bohrschen Radius –, was wenigstens Raum für Näherungsrechnungen gibt.
Auch experimentell lassen sich kürzeste Distanzen zwischen Atomen bestimmen: Beispielsweise in Kristallstrukturen, wo jeweils die beste Raumausfüllung angestrebt wird. Und wenn es mal mit der dichtesten Packung nicht optimal aufgeht? Dann wird gemogelt! So zu sehen auf Abb. 2, wo die Natur noch Lösungsmittelmoleküle in das Gitter des Kristalls eingeschleust hat.

Rastertunnelmikroskop: einmal mit dem Elektron durch die Wand
Mit der Nähe lässt sich noch mehr Merkwürdiges im Nanokosmos entdecken. Nähern sich beispielsweise zwei kleinste Teilchen einander, an die eine Spannung angelegt wird, können Elektronen trotz der Energiebarriere übertragen werden – also sie können gewissermassen mit dem Kopf durch die Wand (des Potentialtopfs) gehen! Die Rede ist vom Tunnelstrom, den sich das moderne Rastertunnelmikroskop (STM) zunutze macht, um Moleküle hochaufgelöst abzubilden. Ein eindrückliches Beispiel ist die Aufnahme eines helix-artig gewundenen Moleküls (Abb. 3), das wie eine Wendeltreppe nach oben verläuft (weil sich die Kohlenstoff-Atome in der Ebene ja nicht durchdringen können). Und genau dort, wo die Spirale aus der Ebene herausragen muss, ist der hellere Kontrast zu sehen. So erlaubt uns die Nähe im Nanokosmos die nähere Untersuchung der kleinsten Teilchen, welche die Biologie und Chemie letztendlich bestimmen.
Die beiden Fachbereiche sind bekanntlich eng miteinander verknüpft – und das nicht nur in Bezug auf das Schwerpunktfach oder die räumliche Nähe im Schulhaus: Stimmt nämlich die Chemie, dann sorgt das ‹Kuschel-Hormon› Oxytocin auch für mehr Nähe in der Biologie.


[Bild: www.ccdc.cam.ac.uk]