2022, Aktuelles, Essay, Im Fokus, Kultur, Nähe, Sage & Schreibe Nr. 35

Nähe

Nicht selten zeigt sich erst im Gespräch die wahre Komplexität der Welt – oder wenigstens des vertrauten Begriffs «Nähe». Aber wenn ein Romanist und eine Germanistin zusammen reden, ist auch der Stift nicht weit – und das Flüchtige wird in kondensierter Form fassbar gemacht.

Von Francesco Mugheddu und Jacqueline Seiler

Auf die Frage «Was ist also Nähe?» könnte man analog zu Augustinus’ Konfessionen über die Zeit antworten: «Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiss ich es nicht.»
Tatsächlich ist «Nähe» ein höchst flüchtiger, mehrdeutiger und manchmal paradoxer Begriff. Je nach Kontext ist sie zeitlich, räumlich oder als Gefühl zu deuten, in eigenem bzw. übertragenem Sinn zu verstehen.
Als konstitutiv relationaler Begriff nimmt «Nähe» je nach Beziehungsart (Familien-, Liebes-, Freundschafts-, Gesellschaftsbeziehungen etc.) immer neue spezifische Bedeutungen an. Ein medusischer Begriff, bei dem sich immer auch die Frage nach der «richtigen» Nähe stellt. Das Bild der Schärferegulierung bei Fotokameras verdeutlicht diese Problematik: Zoomen wir zu weit raus, ist der Fokus unklar. Sind wir zu nahe dran, entfällt der Kontext und somit die Relativierung. Inwiefern aber vermag dieses Bild der Komplexität von Nähe als Gefühl gerecht zu werden?

Die richtige Nähe gibt es nicht
Die Frage der «Nähe» wird zur Frage der «richtigen Nähe». Was oder wer bestimmt „richtige Nähe“ beziehungsweise nach welchen Kriterien wird sie definiert? Gibt es in diesem Sinn auch eine richtige Nähe zu uns selbst?
Man könnte meinen, dass wir es bereits wissen, wenn wir davon ausgehen, dass niemand uns näher ist als wir selbst. Wir denken an unser Ich, als ob es ein in uns wohnender Homunculus wäre, der unsere Identität verkörpert. Seit langer Zeit jedoch wissen wir, dass das Ich ein Konstrukt und die Identität eine komplexe und langwierige Konstruktion ist. Es gibt also keine ursprüngliche Nähe zwischen unserem Wir und unserem Wir-Selbst. Nähe bzw. «richtige Nähe» ist keine Gegebenheit, sondern eine permanente (Wieder-)Eroberung.
Was könnte die vollkommene Nähe (Intimität, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Vertrauen) symbolisch besser darstellen als die Verschmelzung zweier sich liebender Körper und Seelen? Die Liebe frisst sich tot, wenn sie nicht gespeist wird, so die Nähe, wenn sie nicht ernährt wird, durch das Wort und durch den Körper, die sich permanent austauschen und bereichern: Das Wort wird zum Körper und dieser zum Wort. Nähe ist Dialektik.

Nähe in Familie und Gesellschaft
Die Familienbande sind keine Garantie für gesunde Nähe, ganz im Gegenteil: Diese blutbedingte Nähe gilt als die stärkste, aber auch dunkelste. Darüber hinaus werden Söhne und Töchter in diese Nähe geworfen: Sie haben sich weder Eltern noch Geschwister ausgesucht. Hier ist Nähe eine Narration.
Den verschiedenen Formen von Nähe in der Gesellschaft ist das Teilen von bestimmten Ideologien, Interessen gemeinsam. Verfassungen, Verhaltenskodizes, Leitbilder etc. sorgen dafür, dass die jeweilige Nähe bzw. Distanz reglementiert wird. Nähe ist eine Wahl, ein Willensakt.
Die verschiedenen «Nähen», in die wir hineingeboren werden, sind eher ein «Zusammensein», die unseren Bedürfnissen als soziale Wesen entstammen. Dieses Bedürfnis nach Nähe, gepaart mit einem ebenso notwendigen Bedürfnis nach Distanz, kommt in der Stachelschweine-Parabel klar zum Tragen: Eine Gruppe von Stachelschweinen friert, das Bedürfnis nach Wärme zwingt sie zu gegenseitiger Nähe. Aber je näher sie sich kommen, desto schmerzhafter spüren sie die Stacheln der Nachbarn. Sich zu entfernen wäre nicht die Lösung ihres Problems. Daher gilt es, den Abstand so zu finden, dass die erträglichste Nähe erreicht wird.
Kann man Nähe ablegen? In der Regel ist Nähe ebenso wenig wie Liebe, Freundschaft und Glauben ablegbar oder wählbar, weil sie keiner rationalen Logik gehorcht. Liebes-, Familien-, Freundschaftsbeziehungen, die enden, zeigen, dass es sich bei der Auflösung einer «Nähe» in den meisten Fällen um langwierige Prozesse handelt. Dafür gibt es kein allgemeines Erklärungsmuster: Zu viele Faktoren, zu viele Variablen. Eines jedoch scheint klar zu sein: Man spricht nicht mehr dieselbe Sprache, die Paradigmen sind inkommensurabel geworden.
Keiner würde heute bezweifeln, dass emotionale Intelligenz im Lernprozess eine entscheidende Rolle spielt. Die Fähigkeit, Lernende zu berühren setzt eine gewisse «Nähe» voraus und schafft gleichzeitig solche. Nach welchen Kriterien wird hier «richtige Nähe» bzw. «richtige Distanz» bestimmt? Nähe ist eine Kompetenz.
Mit der gewaltigen Verbreitung der neuen Medien waren wir noch nie näher in der Ferne und ferner in der Nähe. Was in einer nahen Vergangenheit meistens eine Disjunktion war, ist heute zur Konjunktion geworden: Nicht nah oder fern, sondern gleichzeitig nah und fern. Am Horizont zeichnen sich neue Formen der Nähe ab, von denen es vielleicht gilt, wieder Abstand zu gewinnen. Nähe bleibt ein Streben.