2024, Aktuelles, HOT'N'COLD, Im Fokus, Interview, Sage & Schreibe Nr. 39

Rechtsmedizin: Wissenschaft und Wahrheit 


Ein Leben endet, doch es ist noch einiges zu klären, das möglicherweise juristisch von Belang ist. Hier beginnt die Arbeit der Rechtsmedizin. Der kalte Körper soll die Antworten liefern, die das Leben offengelassen hat. sage&schreibe hat Dr. med. Daniel Eisenhart, Institutsleiter und Chefarzt des Instituts für Rechtsmedizin im Kantonsspital Aarau, über den Beruf des Rechtsmediziners befragt.

Von Alexandra Ellena, Emilia Laube und Lilly Zgraggen G21K

sage&schreibe: Herr Dr. Eisenhart, Ihr Arbeitsfeld ist die Rechtsmedizin. Inwiefern hängen die Bereiche Juristerei und Medizin zusammen?
Dr. med. Daniel Eisenhart: Wir sind ausgebildete Ärzte und haben uns aus den unterschiedlichsten Gründen für die Rechtsmedizin entschieden, während die Staatsanwaltschaft einen juristischen Hintergrund hat. Wir kennen allerdings die Sprache und Welt der Juristen und versuchen, die Untersuchungsergebnisse, allfällig relevante medizinische Zusammenhänge sowie ereignisrekonstruktive Überlegungen in Wort und Bild in Form eines Gutachtens so wiederzugeben, dass die Staatsanwaltschaft entscheiden kann, ob ein Straftatbestand vorliegt. Entscheidend ist nicht zuletzt die Verständlichkeit: Unsere Gutachten müssen so geschrieben sein, dass wir sie jemanden auf der Strasse zum Lesen geben könnten und diese Person den Inhalt problemlos nachvollziehen kann. Deshalb verwenden wir in unseren Berichten auch nie fachspezifische Fremdwörter.

Wann müssen sie eine Leiche untersuchen?
Die Strafprozessordnung sieht vor, dass zuerst der Tod im Rahmen einer ärztlichen Leichenschau durch einen Hausarzt oder Spitalarzt festgestellt wird. Werden dabei Auffälligkeiten bemerkt oder geht man von Anfang an von einem Delikt, Unfall oder einer Selbsttötung aus, erfolgt eine sogenannte Legalinspektion durch die Rechtsmedizin. Können nicht alle strafrechtlich relevanten Fragen vor Ort beantwortet werden, verfügt die Staatsanwaltschaft eine Autopsie.

Wie unterscheidet sich die Arbeit an einem toten Körper von einer normalen Operation?
Eine Autopsie ist vergleichbar mit einer Operation, die aber im Unterschied zur Operation nicht blutet, weil sie am leblosen Körper vorgenommen wird. Es handelt sich um eine standardisierte Untersuchung, die immer von zwei Ärzten durchgeführt wird. Wir untersuchen in jedem Fall die Kopf-, Brust- und Bauchhöhle sowie die darin befindlichen Organe. Für uns ist es wichtig herauszufinden, ob es Befunde gibt, welche die Todesursache und die Umstände des Todeseintritts erklären.

Gilt bei der Arbeit an toten Körpern derselbe ethische Kodex wie bei lebenden Menschen?
Der Umgang mit Verstorbenen ist stets würdevoll. Angehörige haben auch oft die Befürchtung, dass der Körper bei der Autopsie entstellt wird. Dem ist aber nicht so. Die Untersuchung wird bewusst so durchgeführt, dass nach der Ankleidung und Einsargung durch den Bestatter keinerlei Hinweise auf eine vorgängig durchgeführte Autopsie erkennbar sind. Auf diese Weise ermöglichen wir den Angehörigen trotz durchgeführter Autopsie einen würdevollen Abschied.

Wie viele Fälle pro Jahr bearbeiten Sie?
Wir untersuchen etwa 750 Verstorbene vor Ort und führen ca. 150 Autopsien sowie knapp 300 klinische Untersuchungen durch.

Was ist der schwierigste Teil Ihres Berufes?
Anders als zum Beispiel bei Chirurgen, die eine Operation durchführen und bei positivem Ausgang ein Erfolgserlebnis haben, bekommen wir praktisch nie ein positives Feedback. Erkenntnisse aus unseren Untersuchungen haben fast immer negative Konsequenzen für jemanden. Unsere Motivation ist denn auch in erster Linie, sich für jemanden einzusetzen, welcher nicht mehr dazu in der Lage ist – oder in anderen Worten einen wichtigen Beitrag für die Wahrheitsfindung zu liefern. Auch nicht einfach sind Untersuchungen in Zusammenhang mit ärztlichen Eingriffen. Es ist nicht unsere Absicht, Berufskollegen in die Pfanne zu hauen. Auf der einen Seite gibt es den Arzt, der etwas Gutes tun wollte – auf der anderen Seite den Verstorbenen, welcher sich nicht mehr zu Wort melden kann. Unsere Aufgabe ist es dann, unvoreingenommen und wertfrei alle notwendigen Informationen der Staatsanwaltschaft zur Verfügung zu stellen, damit diese entscheiden kann, ob ein strafrechtlicher relevanter Tatbestand vorliegt.

Bild: Erza Gashi