Von Demenzkranken heisst es oft, sie hätten den Bezug zur Zeit verloren. Tatsächlich verlieren viele das Gefühl für Tag und Nacht, sind mit dem normalen Tagesablauf überfordert. Nicht wenige ziehen sich dann in eine für Aussenstehende verschlossene Vergangenheitswelt zurück. Was macht diese Krankheit mit den Betroffenen? Wie verändert sie insbesondere den Umgang mit der Zeit? sage&schreibe hat nachgefragt bei Ralph Juchli, Wohngruppen-Teamleiter auf der Demenzabteilung des Alterszentrums Haslibrunnen in Langenthal BE.
Von Anna Caviezel und Lena Tschannen, G20F
Im Alterszentrum Haslibrunnen zeigt uns Ralph Juchli als Erstes die Demenzabteilung. Schon beim Betreten des Wohnflügels wird klar: Das hier ist kein normales Altersheim. Der Gang ist geschmückt mit vielen, kleineren Gemälden und der Jahreszeit angepassten Deko-Stücken. Sie untermalen die friedliche Stimmung im Raum. Im Gang stehen alte Möbelstücke, etwa eine Standuhr oder eine Kaffeemühle aus dem letzten Jahrhundert. Das Mobiliar hier erinnert an das vertraute Wohnzimmer der Grossmutter und vermittelt das Gefühl, in der Zeit stehen geblieben zu sein. Tatsächlich sind sämtliche Uhren entweder zur Wand gedreht oder stehen geblieben. Wir folgen Ralph Juchli in den Hauptbereich der Abteilung, wo wir auf viele neugierige Gesichter stossen. An verschiedenen Tischen sitzen ältere Damen und Herren zusammen mit dem Betreuungspersonal. Sie spielen Gesellschaftsspiele oder basteln gerade an zierlichen Kreationen aus Papier oder Karton. Herr Juchli erklärt uns, dass sich die Bewohner hier die meiste Zeit aufhalten. Es ist unschwer festzustellen, dass die Krankheit Demenz nicht bei allen gleich stark ausgeprägt ist. Der individuelle Krankheitsverlauf sei ein wesentliches Merkmal der Krankheit, erklärt Juchli und führt uns ins Sitzungszimmer.
Wie kann eine Krankheit wie Demenz unser Zeitgefühl beeinträchtigen?
Demenz ist der Oberbegriff für mehr als 100 verschiedene Krankheiten, die das Gehirn schädigen. Betroffen sind insbesondere die geistigen, die sogenannten kognitiven Fähigkeiten wie das Denken, das Gedächtnis, die Orientierung und die Sprache. Bei einer Demenzerkrankung ist es typisch, dass zuerst das Kurzzeitgedächtnis verloren geht. Wir reden über etwas, und Minuten später erinnere ich mich nicht mehr, worüber wir gesprochen haben. Menschen mit Demenz können sich aber ausgezeichnet an weit zurückliegende Begebenheiten erinnern. Dadurch bewegen sie sich, gerade am Anfang der Krankheit, immer mehr in die Vergangenheit zurück. Es wäre peinlich, wenn jemand merkt, dass ich mich nicht an gerade gesagte Sätze erinnere. Also schaue ich, dass ich mich in Geschichten bewege, die ich noch weiss. Aber irgendwann können Demenzkranke sich zeitlich gar nicht mehr orientieren.
Wollen Demenzkranke einfach gerne über die Vergangenheit reden oder leben sie wirklich dort?
Mit der Zeit, ab einer mittelschweren Demenz, ist das tatsächlich ihre Realität. Sie merken aber, unsere Welt ist irgendwie anders. Und dann müssen sie anfangen, die aktuellen Geschichten mit denjenigen aus der Vergangenheit zu verknüpfen. Man nennt das Zeit- oder Personenkonklusionen. Ein Mensch mit Demenz kann sagen, ich muss jetzt nach Hause kochen gehen, denn meine fünfjährige Tochter kommt zurück von der Schule. Und dann fragt man, wie alt sind Sie denn? Antwort: neunzig. Und die Mutter komme auch noch zum Essen.-Wie alt ist denn Ihre Mutter? Antwort: Die wird so ungefähr 96 sein.
Das geht für Demenzkranke auf. Denn so, wie sie die Dinge miteinander verknüpfen, ergibt es für sie Sinn. Das machen wir ja mit unserer Wahrnehmung zum Teil auch. Wir biegen uns auch gerne die Dinge so zurecht, dass es unserer Meinung, unserer Haltung, unserem Glauben, was auch immer, entspricht.
Wenn Demenzkranke sich immer weiter in die Vergangenheit zurückziehen – Sind sie am Schluss wieder Kinder?
Nein. Aber von der Aufnahmefähigkeit, von der Verhaltensstruktur, von der Lernfähigkeit her werden sie tatsächlich zunehmend kindlich. Menschen mit schwerer Demenz liegen auf dem Sterbebett übrigens oft in Embryonalstellung, fast wie ein Neugeborenes.
Also könnte man sagen, es ist wie eine Zeitreise zurück zum Anfang?
Es ist nicht eine Reise, die sie willentlich machen. Sie bekommen von aussen Impulse und Reize, es sind Wahrnehmungen wie für uns auch, sie riechen, sie schmecken, sie fühlen etwas – und das löst Erinnerungen aus. In diesem Moment sind sie tatsächlich in dieser früheren Zeit. Aber sie sind gewissermassen getrieben von den Impulsen. Und manchmal finden sie aus dieser Zeit gar nicht mehr heraus.
Welche Rolle spielen Emotionen?
Eine grosse, denn das Gehirn speichert am einfachsten und am tiefsten die emotionalen Ereignisse. Darum können diese Leute sagen, was es an ihrem Hochzeitstag zu Essen gab und dass der Onkel Willi dreimal das gleiche Lied gesungen hat. Völlig banale Alltagsgeschichten, aber emotional sehr stark gebunden.
Sie haben jahrzehntelange Erfahrung mit Demenzkranken. Erzählen Sie uns eine Geschichte.
Ich hatte eine Bewohnerin, die sagte, sie habe Angst. Sie weinte und sagte, er komme wieder und schlage sie. Und ich begriff zuerst nicht, in welcher Zeit sie gerade lebte. Ich meinte, es gehe um ihren Mann. Denn ihr Mann war Alkoholiker. Bis ich merkte, dass irgendetwas nicht zusammenpasste. Sie hatte nämlich noch gesagt, dass sie ja noch ihre Hausaufgaben machen müsse. Da merkte ich, dass sie in dem Moment 14 Jahre alt war. Und jetzt kommt er und schlägt mich wieder mit Holzscheiten ab! Bis ich grün und blau bin! Und auf der Gemeinde helfen sie mir auch nicht. Die Frau war also als Kind von ihrem Vater misshandelt worden. Irgendetwas auf der Station muss in ihr diese Erinnerung geweckt haben. Ein Geruch, ein Geräusch, ich weiss es nicht. Dann verknüpft sich die Gegenwart mit der Vergangenheit, mit so einer emotionalen Erfahrung, und man erlebt es noch einmal wie früher.
Wie fand sie aus diesem schmerzhaften Erleben wieder heraus?
Indem ich ihr sagte, in diesem Haus werde nicht geschlagen, hier sei ich der Chef. Sie sei bei mir in Sicherheit. Das heisst: solche kranken Menschen in der Krisensituation ernst nehmen, Gefühle spiegeln, um eine Beziehung aufzubauen. Dann kann man sie nach und nach im Gespräch auf sicheren Boden führen. Und schliesslich führt ein neues Thema in eine neue Welt.
Inwiefern beeinflusst die veränderte Zeiterfahrung die Persönlichkeit der betroffenen Person?
Ziemlich stark, je nach dem, was für Gefühle im Zusammenhang mit der Vergangenheit ausgelöst werden. War (oder bin) ich ein Schulmädchen, das frisch verliebt war (oder ist)? Ich habe eine Patientin, die ist in einen Pfleger verliebt und ist überzeugt, er sei ihr Freund. Sobald er zu einer anderen Patientin geht, ist sie eifersüchtig.
Wenn jemand in einer angenehmen, positiv besetzen Zeit lebt, wo er oder sie zufrieden und glücklich ist, ist das für uns Betreuende natürlich bedeutend einfacher, als wenn jemand beispielsweise in einer Zeit des Krieges lebt. Ich weiss von Kollegen, die solche kriegstraumatisierten Bewohner auf der Station hatten. Diese Patienten waren den ganzen Tag im Schützengraben. Im Russland-Feldzug in Stalingrad. Das sind natürlich extrem starke Bilder und Emotionen, mit denen man da konfrontiert ist. Das waren zum Teil Patienten, die aus dem Krieg nach Hause kamen und nie über ihre Erlebnisse sprachen. Gerade Verdrängtes bricht in gewissen Situationen mit aller Kraft auf.
Ralph Juchli schaut auf die Uhr. – Während wir aufstehen und uns bedanken für das Gespräch, fällt unser Blick auf eine Broschüre des Alterszentrums. «Hier findet Leben statt», heisst das Motto der Institution. Das tut es – egal, in welcher Zeit man lebt.
[Bilder: Anna Caviezel und Lena Tschannen]