2022, Kultur, Sage & Schreibe Nr. 35

Sechsundvierzig Minuten

Von Jakob Schildhauer, G20F

Bremsen quietschen. Menschen strömen mir entgegen, als ich versuche, aus der Unterführung auf den Bahnsteig zu gelangen. Ich renne die letzten Meter zum Zug, springe hinein und höre das Fiepen der sich hinter mir schliessenden Türen. Die Atmosphäre eines Schulhofes begrüsst mich, als ich in den Gang des Waggons trete. Den Reservationszetteln an den Fensterscheiben entnehme ich, dass es sich bei den durcheinanderschreienden Kindern um die Klasse 3b handelt, die wie ich bis nach Basel fährt. Schnell laufe ich einige Meter weiter, hinaus aus dem Getümmel. Ich lege meine Tasche auf den nächstbesten Platz in sicherer Entfernung, kämpfe mich aus meiner dicken Winterjacke, die mich nicht loslassen will, schaffe es schliesslich und verstaue sie über den Sitzen. Unterdessen hat sich mein Rucksack verselbstständigt und ist auf den Boden gefallen. Ich hebe ihn auf, setze mich. Heute will auch gar nichts klappen. Erst jetzt fällt mein Blick auf mein Gegenüber. Es ist der Weihnachtsmann.
Zumindest ist das mein heimlicher Name für den Herrn vor mir. Wenn es einen Menschen gibt, dem ich zutrauen würde, Millionen von Geschenken in nur einer Nacht zu verteilen und dabei trotzdem eine Ruhe auszustrahlen, als meditiere er, dann ist es dieser Mann. Selbst beim Zeitunglesen wirkt er so bedacht, so beruhigend, dass ich beinahe etwas ehrfürchtig werde. War ich denn auch artig? Eigentlich fehlt der Vollständigkeit halber nur der rote Mantel. Alles andere wirkt bereits, als sei es einer Kindergeschichte entsprungen. Die dunkelbraunen, kleinen Augen hinter der schmalen Brille mit dünnem Gestell und der lange, weisse Bart, der auf allen Seiten hinter der Zeitung hervorschaut. Öfter liest er Kriminalromane. Wir kennen uns schon länger. Eigentlich ist das falsch gesagt. Ich kenne ihn nicht, sehe ihn nur auf dem Weg zur Uni, wenn ich, meistens keuchend und in letzter Sekunde, in den Zug einsteige. Genau sechsundvierzig Minuten, so lange dauert die Fahrt nach Basel. Und doch ist mir, als sei der Weihnachtsmann mein Freund, ein alter Bekannter, dem ich alles anvertrauen kann. Nur unterhalten haben wir uns nie. Seine Bücher mag ich jedenfalls, habe selbst einige davon schon gelesen. Donna Leon zum Beispiel. Ob er die Wendung am Ende vom vierten Band, den er letzte Woche dabeihatte, erwartet hat? Wahrscheinlich schon, der Weihnachtsmann weiss schliesslich alles. Ich muss schmunzeln.
Dann blicke ich aus dem Fenster und folge dem Verlauf des Rheins neben der Strecke. Links, dann wieder rechts, Häuser und Bäume stören gelegentlich die Sicht. Und plötzlich, plötzlich bremst der Zug schon. Und ich schaue nach vorne, doch der Weihnachtsmann ist weg. Ich entdecke ihn im Gang. Der Zug hält, die Kolonne setzt sich in Bewegung. Ich zwänge mich in meine Jacke, nehme meinen Rucksack und versuche, so schnell wie möglich aus dem Zug zu gelangen. Doch die Klasse 3b hat dasselbe Ziel wie ich, und es dauert einige Momente, bis alle Kinder sicher auf dem Bahnsteig stehen. Denn hier herrscht reinstes Chaos. Menschen rennen kreuz und quer zu den Zügen, Leute stolpern über Koffer und dazu verkündet eine automatische Stimme den Ausfall der S29. Wunderbar.
Aber da vorne ist er, ich sehe ihn noch gerade. Ich beeile mich, verliere den Mann immer wieder kurz aus den Augen, hole ihn aber langsam ein. Ich tippe ihm auf die Schulter, er dreht sich um. Endlich.
«Guten Tag, ich seh’ Sie ganz oft im Zug und wollte Ihnen einfach mal Hallo sagen …», doch meine Stimme verstummt langsam. Der Weihnachtsmann wirkt nun gar nicht mehr so lieb. Überrascht stammle ich etwas und höre ihn sagen, er wolle nichts unterschreiben. Einen schönen Tag. Vielleicht ist eine sechsundvierzigminütige Zugfahrt einfach nicht genug, um jemanden kennenzulernen. Enttäuscht gehe ich weiter zur Rolltreppe. Oben angekommen, tippt mir plötzlich jemand auf die Schulter. Ich drehe mich um, es ist eine junge Frau. Sie wirkt etwas nervös. «Hi! Ich hab’ dich im Zug gesehen …».

Schreibwettbewerb 2022
1. Platz in der Kategorie 1./2. Klassen