Von Alexandra Ihle, G19A
Wenn wir von Nähe reden, denken wir meistens an die Nähe zu anderen und fast nie an die Nähe zu uns selbst. Eigentlich merkwürdig, denn wir sind uns doch selbst am nächsten.
Gemäss Duden wird «sich nahestehen» folgendermassen verstanden: «aufgrund einer Eigenart oder bestimmter Merkmale in die Nähe einer Sache gehören, ihr benachbart sein oder zu jemandem in enger Beziehung stehen, zum Beispiel einer Person oder auch einer Partei». Würde diese Definition auf die Nähe zu sich selbst übertragen, könnte diese folgendermassen erklärt werden: Mir selbst nahe bin ich dann, wenn ich mich so gut kenne, dass ich mir meiner Eigenart mit allen Bedürfnissen und Wünschen bewusst bin.
Hand in Hand mit Selbstnähe gehen Selbstakzeptanz und, als Steigerung davon: Selbstliebe. Auch das Vertrauen in sich selbst gehört dazu. – Und in welcher Beziehung stehen diese Begriffe zu einander?
Selbstakzeptanz und Liebe. Die beiden Begriffe sind selbsterklärend, aber ihr Verhältnis ist kompliziert. Denn es ist möglich, sich selbst zu akzeptieren, ohne sich zu lieben. Aber Selbstliebe ohne Selbstakzeptanz – das geht nicht.
Selbstakzeptanz hat zudem viel mit Selbstrespekt zu tun. Akzeptiere dich selbst, und du respektierst dich selbst. Zu dieser Akzeptanz und diesem Respekt gehört, dass die eigenen Eigenschaften, Stärken, Schwächen und insbesondere Fehler erst einmal wahrgenommen werden. Sich Fehler einzugestehen ist wichtig, denn nur so ist Weiterentwicklung möglich. Es ist aber genauso wichtig, für seine persönlichen Bedürfnisse einzustehen. Selbst wenn das bedeutet, auf etwas zu verzichten. Zum Beispiel eben nicht in den Club zu gehen, als Einzige oder Einziger. Einfach weil das Gefühl das sagt und weil dieses Gefühl ernst genommen wird. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass Selbstrespekt stark mit dem sozialen Umfeld und dem damit verbundenen sozialen Druck zu tun hat. Unter diesem Druck, der von allen Seiten auf uns einwirkt, tun wir Dinge, die wir, wenn wir ehrlich sind, aus eigenem Antrieb nicht tun würden. – Nur wenn ich nahe genug bei mir selbst bin, kann ich diesem vielfältigen Druck widerstehen – und bei mir bleiben.
Nähe bedeutet aber immer auch Geborgenheit. Manchmal sehnen wir uns so sehr nach Nähe oder eben Geborgenheit, dass wir die wichtigste Person vergessen, zu der wir Nähe empfinden sollten: uns selbst. Tatsächlich ist Geborgenheit nicht möglich ohne Selbstnähe. Wenn ich mir selbst nicht nahe bin – wie könnte ich mich da einem anderen Menschen nahe fühlen können.
Nähe, Selbstnähe, das ist nicht geschenkt. Sie sind zu erarbeiten in einem langen Prozess des Sichkennenlernens. Einfach ist das nicht. Im Gegenteil. Ohne Selbstvertrauen geht es nicht, doch dieses Selbstvertrauen entsteht ja erst unterwegs. Also braucht es wohl erst einmal einfach Mut. Den Mut, den Weg unter die Füsse zu nehmen, der einen näher zu sich selbst bringt – und den Mut, Rückschritte in Kauf zu nehmen. Anders können wir uns nicht weiterentwickeln und zu der Person werden, die wir sein möchten. Schlimmer noch: Wenn wir die Nähe zu uns selbst nicht aktiv suchen, driften wir immer weiter von uns und unserem Wesenskern weg. Bis wir uns aus den Augen verlieren. Das können wir nicht wollen. Dann doch lieber das letzte bisschen Mut zusammenkratzen und den ersten Schritt tun. Auf uns selbst zu.
[Bild: Alexandra Ihle]