Vor 36 Jahren nahm Henning Timcke an der Alten Kanti Aarau sein Matura-Zeugnis entgegen. Und noch heute treibt ihn der Gedanke an die Zukunft an.
Henning Timcke, was ist Ihre erste Erinnerung an die Alte Kanti?
Henning Timcke: Lehrpersonen, die Wert darauf legten, in unserem sich entwickelnden Bewusstsein nachhaltig zu verankern, die Elite unseres Jahrgangs zu sein.
Das hat Sie: stolz gemacht? verärgert? ein müdes Lächeln gekostet?
Timcke: Das hat bei mir Widerstand geweckt und wenig Verständnis, damals. Aus heutiger Sicht sehe ich da eher die Besorgnis der Pädagogen und deren zum damaligen Zeitpunkt besten Willen, der Jugend – fokussiert auf die eigenen Klassen – einen Hinweis auf Halt im andauernden Chaos zwischen Pubertät und Adoleszenz zu geben. Damals war ja im Advent der Opernhauskrawalle, dem Aufstand gegen Elite, elitäre Kultur. Die Alte Kanti wollte Nobelpreisträger und wir bekamen No Future.
Was machten Sie damals eigentlich während der Pausen und Zwischenstunden? Gab ja weder Internet noch Handy …
Timcke: Geredet, diskutiert, dekorativ in der Gegend rumgestanden, kurz: nicht viel anderes als mit Handy und Internet, allerdings ohne Flatrate-Gebühren.
Das Leben war damals also günstiger? Auch einfacher als heute?
Timcke: Nein, das Leben war weder günstiger noch einfacher, wir standen nicht vor einfacheren Aufgaben und auch nicht vor schwereren, in der Hauptsache hatten wir das zu tun, was Jugend zu tun hat: Zu erkunden, was das beginnende Leben für uns bringen wird, was unserer Generation entgegenkommen wird und wo wir unseren Platz in der Zukunft finden werden. Nichts ist teurer als Zukunft (in der ja auch noch die Vergangenheit, die Jugend der Eltern, bezahlt sein will), und nichts ist schwieriger zu verstehen als die eigene Zukunft, vor allem weil sich das Verständnis für das eigene In-der-Welt-Sein nicht mit wenigen Klicks downloaden lässt. Und nebenher noch eine Matura machen wollen, der Liebe nicht nur in der Literatur zu begegnen … auch bis zur Lebensmüdigkeit enttäuscht zu sein, und nach dreieinhalb Jahren diese Matura dann doch zu bestehen, das ist wohl Privileg und Vermögen der Jugend.
Was war denn Ihr Lieblingsfach?
Timcke: Darstellende Geometrie, auch wenn meine Zeugnisnoten dem widersprachen.
Dann lag es vielleicht an der Lehrperson? Ist Ihnen jemand besonders in Erinnerung geblieben?
Timcke: An alle Lehrpersonen erinnere ich mich, an Cécile Laubacher und Bruno Bolliger, an die Professoren Siegrist, Wildi, Wernli, Suter, Sidler, Oelhafen Rey, Zemp, Magnin, Bösch und Bürki. – Zur Darstellenden Geometrie hingezogen zu sein, lag nicht an den Lehrpersonen Prof. Bürki und Prof. Wildi. Darstellende Geometrie war ein erstes Anklingen von Zukunft, da wurde als Idee und Prinzip erkennbar, wie heute mit Computern Welten geschaffen werden. Darstellende Geometrie war Magie und Erklärbarkeit, Wunder mit rechnerischer Grundlage, Vorstellungskraft beweisbar, die Brücke aus Naturwissenschaft von Kunst nach Poesie, Lyrik nummerisch.
Wenn Sie zurückblicken, denken Sie, das war damals eine gute (Aus-)Bildung, die Sie an der Alten Kanti erhielten?
Timcke: Von Ausbildung – im Sinne von Schule ist auch mal zu Ende – kann ja am Gymnasium nicht wirklich die Rede sein, von Bildung schon. Meine Kantonsschulzeit ist mir eine gute Erinnerung mit vielen Gefühlsfelsen an lang verlassenen Ufern. Sicherlich wehte auch Aarauer Kantonsschulgeist in meine Jugendzeit. Und bei allem, was daraus entstand, da möchte wohl dieser Aarauer Geist gerne auch sich als den guten Geist gezeigt sehen. Ganz persönlich betrachtet, verdanke ich die gute Bildung wohl zum grösseren Teil den Mitschülerinnen und Mitschülern, den Freundinnen und Freunden – auch ausserhalb der Schule –: deren Mit-mir-zusammen-die-Jugend-Sein, deren Mitringen nach neuer Haltung zu neuem Lebensgefühl. Unserer Klasse Widerstand geboten zu haben und unseren Widerstand ausgehalten zu haben, dafür gebührt unseren Lehrpersonen Respekt; und der Schule gehört Dank, der Ort zu sein, an dem Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer in einer Übergangszeit zu Hause sind. Denn wir, die Schülerinnen und Schüler, waren ja die Geister, die Sie, die Lehrerinnen und Lehrer, riefen.
Gab es auch „Dinge“ – Fächer, Möglichkeiten, Angebote –, die Sie vermissten?
Timcke: Nun ja, wohlwollende Alternativen zur Zukunftsperspektive Nobelpreisträger wären willkommen gewesen, beim radikalen Matura-Typus C waren die sozialkompetenten Optionen damals nicht im notenwirksamen Plan. „Dinge“ wie Theaterwochen, Studienreisen nach Florenz, Filmclub, Schülerratspräsidium und eigene – freiwillig klassenübergreifende – Filmproduktionen haben wichtige Beiträge geleistet, Sozialisierung zu erleben und zu erlernen, und geholfen, Möglichkeiten und Angebote, die zu vermissen gewesen wären, selbst zu erschaffen.
Wenn nicht alles täuscht, liegt Ihnen die Zukunft heute noch genauso sehr am Herzen wie damals?
Timcke: Heute ist mir die Zukunft noch wertvoller als damals während meiner Kantizeit, als ich noch so viel mehr Zukunft hatte, und erst knapp zwanzig Jahre Leben kannte, geglaubt hatte, Investitionen in die Zukunft seien sinnvoll, heute weiss ich, wie unmöglich Investitionen sind, die sich nicht in die Zukunft richten. Weshalb ich den Slogan „In die Zukunft investieren“ für unerträglich halte, denn welche Alternative haben wir denn, ausser in die Zukunft zu investieren?
Sie sind Firmengründer der Werft22 und derzeit hauptsächlich mit dem Projekt nanoo.tv beschäftigt.
Timcke: Als wir 1991 Werft22 als Genossenschaft gründeten, sahen wir „die Werft“ als die Verwirklichung der Idee unseres eigenen Werkplatzes für selbständiges, innovatives, kreatives Arbeiten, als Ort, an dem etwas stattfinden kann, von dem aus wir etwas vom Stapel laufen lassen. In unserem damaligen Selbstverständnis war unser „Blinder Fleck“ tatsächlich Kooperation, wir sieben Genossenschafter haben kooperiert und nicht erkannt, dass unsere Kooperationsfähigkeit die Kraft war. Was wir in der Idee sahen, war nur die Aussenwirkung unseres Zusammen-etwas-uns-Richtiges beginnen zu wollen. Auch wenn nanoo.tv innovativ, zukunftsweisend und was noch alles mehr ist, ist nanoo.tv ein Kooperationserfolg. Drei Jahre lang (2012–2014) war nanoo.tv ein akademisches Projekt der Zürcher Hochschule für Künste (ZHdK) und Werft22 zur Erprobung eines neuen Urheberrechtstarifs für einen legalen Online-Videorecorder und eine Filmplattform für Schulen, basierend auf Beschlüssen der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) und dem gemeinsamen Tarif der ProLitteris. Das war ein intellektuelles, ambitiöses Vorhaben, aber vollständig frei von Subventionen und Drittmitteln, und das Scheitern des Projektes war eine Option. Nun, das Projekt ist nicht gescheitert, und gewinnt innerhalb Werft22 betriebliche, verbindliche Konturen, dank der internationalen Kooperation mit gut fünf Dutzend Experten, die im Trockendock mitwirken, nanoo.tv als eigenständiges, sich selbstragendes Bildungsinstrument auszugestalten. Auf den Stapellauf freue ich mich sehr, und auch auf den für Neues frei werdenden Platz auf dem Werkplatz Werft22.
Stellen wir uns vor, Sie wären – aus welchen Gründen auch immer – Lehrer am Gymnasium geworden. Welches Fach würden Sie unterrichten? – Und wie?
Timcke: Bildnerisches Gestalten wäre eine Möglichkeit, nach dem Didaktikum in Aarau habe ich dieses Fach an der Kantonschule Wettingen unterrichtet, stellvertretenderweise, vor zwanzig Jahren. Das Internet war damals noch ganz am Anfang und bot mehr Verdienstmöglichkeiten als die karg verfügbaren Stellen für Zeichenlehrer. Was an der Kanti an (Aus-)Bildung vielleicht noch zu bekommen gewesen wäre, habe ich am Didaktikum in Aarau mit nachzuholen gewusst. Wenn ich heute am Gymnasium unterrichtete, wäre es mit ein grosses Anliegen zu vermitteln, was die Vorteile von Schule als träges System sind, was die Kraft von Kreativität ist, was die Kraft einer Idee ist, die zur richtigen Zeit kommt. Zum Beispiel in einer Projektwoche mit dem Thema: „Stell Dir vor, es ist Zukunft und keiner hat investiert“.
Henning Timcke, geboren 1961, wuchs in Brugg auf und lebt heute in Baden. Er besuchte die Alte Kanti Aarau von 1977–1980 (Matura Typus C), studierte an der Universität Zürich Philosophie, Ethnologie und Linguistik, besuchte die F & F Schule für Experimentelle Gestaltung in Zürich, wo er auch als Assistent tätig war, arbeitete in den 1990er-Jahren bei ABB und Swisscom, bis er sich ab 1998 ganz der „Werft22“ verschrieb, deren CEO er seit 2003 ist. Seit 2011 ist er Vizepräsident von „Swissstream“. „Werft22“ wurde in den letzten Jahren mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Worlddidact Award (2014) und dem Swiss Cloud Award, Advanced Cloud Solution, nanoo.tv (2012).
Interview: Markus Bundi