Stress ist im Leben von Leistungssportlerinnen und Leistungssportlern unvermeidlich. Auch in der anspruchsvollen Disziplin des Schiesssports, bei dem Sekundenbruchteile über das Ergebnis entscheiden, ist Stress omnipräsent. Gerade in entscheidenden Momenten erleben Athletinnen und Athleten in solchen Momenten eine extreme Belastung. Auch Chiara Leone, die Olympiasiegerin von 2024 in der Königsdisziplin Dreistellung Gewehr 50m, kämpft mit solchen Herausforderungen. Sie erzählt uns in einem Videocall von ihren Erfahrungen und wie sie mit Stress umgeht.
Von Nathalie Tanner und Jessica Pinto Guerreiro, G21K
Nach wenigen Klingeltönen ertönt die Stimme von Chiara Leone am anderen Ende der Leitung. Die Olympiasiegerin und ehemalige Schülerin der Alten Kanti ist gerade auf dem Weg nach Wettingen, wo sie im Rahmen des Sport Forums Aargau als Rednerin gebucht ist. Ein persönliches Treffen liess ihr voller Terminkalender nicht zu, doch den stressigen Alltag und den bevorstehenden öffentlichen Auftritt hört man ihrer Stimme nicht an – sie wirkt entspannt. Da eine solche Gelassenheit ansteckend ist, spüren wir, wie die Anspannung auch von uns abfällt. Wir hören Chiara Leone aufmerksam dabei zu, wie sie unsere Fragen beantwortet.
Stress erlebt Chiara Leone im ganz normalen Alltag durch einen Kontrollverlust über Kleinigkeiten. «Es sind ganz einfache Sachen, die normalerweise nicht viel Energie kosten», sagt ie. «Aber man merkt einfach, dass alles, was man nicht kontrollieren kann, einem Energie raubt.» In einer Wettkampfsituation oder auch beim Training kann sich Stress auch ganz anders zeigen. Im Training manifestiert sich der Stress eher in ihren Gedanken; im Wettkampf hingegen spürt sie den Stress auch körperlich. «Der Puls geht schon ein wenig nach oben, alle Muskeln sind angespannt. Damit muss man umgehen können.»
Umgang mit Stress
Das Wichtigste im Umgang mit Stress ist, zu erkennen, dass man gestresst ist. Das geschieht, indem man sich zugesteht, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Da sich Stress jedoch bei vielen Menschen unterschiedlich äussert, ist es wichtig, die eigenen Symptome zu analysieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Denn wenn man weiß, welche Anzeichen auf Stress hindeuten, kann man gezielt dagegen ankämpfen. «Wenn du einen erhöhten Puls hast, helfen dir vermutlich Atemtechniken, mit denen du den Puls senken kannst. Falls du dich nicht fokussieren kannst, helfen Selbstgespräche, bei denen du lernst, deine Gedanken in eine Richtung zu lenken, die für dich im Moment förderlich ist.» Chiara Leone hat genau für solche Situationen einen Sportpsychologen, mit dem sie sich intensiv mit ihren eigenen Stresssymptomen und den adäquaten Bekämpfungsstrategien auseinandersetzt. Ihr persönlich hilft es am meisten, einfach über den Stress oder die Nervosität zu sprechen. Dies könne einem helfen, die Last zu verteilen, sagt sie, so müsse man sie nicht alleine tragen. Oft ist es mein Coach oder jemand aus meiner Trainingsgruppe, mit denen ich das spreche, was mich stresst.»
Auch in Bezug auf den landläufig bekannten Alltagsstress, der viele Menschen begleitet, hat Chiara Leone ihre eigene Herangehensweise. In Stress-Situationen hilft es ihr, einen Plan zu machen. «Man kann sich zum Beispiel einen halben Tag Zeit nehmen, um dringend Notwendiges abzuarbeiten, denn sonst schiebt man es immer weiter hinaus und ist für zwei Wochen gestresst. Das versuche ich zu vermeiden, weil es sich auch negativ auf meine sportliche Leistung auswirkt.»
Ein wichtiger Aspekt im Umgang mit Stress ist auch, sich selbst keinen unnötigen Druck zu machen. Oft versuche man, immer noch mehr zu leisten, sagt Chiara Leone, obwohl schlicht nicht mehr möglich sei. «Man muss nicht mehr als 100 Prozent geben, auch wenn das viele behaupten – denn 100 Prozent sind genug. »
Und dann ist Chiara Leone im Sportforum Wettingen angekommen. In ein paar Minuten wird sie zusammen mit anderen Schweizer Sportgrössen zum Thema Sport und Kreativität referieren. Atemübungen, Selbstgespräche – sie wird das mit dem Stress sicher hinbekommen. Immerhin ist sie Olympiasiegerin!
Bild: zVg