Essay, Neue Medien - like?!, Sage & Schreibe Nr. 23

Teil des Systems

Warum sich kaum jemand den neuen Medien entziehen kann.

Vielleicht war der Fortschritt noch nie so schnell wie heute. Wahrscheinlich ist ein Grossteil der Menschheit überfordert. Keiner weiss, wie die Welt sich in zwanzig Jahren dreht. Und dennoch scheint es sich um drei Aussagen zu handeln, die kaum noch jemanden nervös machen oder gar ängstigen – als hätten wir uns damit abgefunden, überholt worden zu sein … als hätten wir die Zügel längst aus der Hand gegeben?
Einst waren die Menschen der Natur schutzlos ausgeliefert. Es kam zu Hungersnöten, Erdbeben, Pandemien. Ganz von der Welt verschwunden sind diese Katastrophen nicht, doch haben jene, die über die nötigen Mittel verfügen, sich inzwischen abgesichert und glauben, die Natur im Griff zu haben. Der Vergleich, den ich hier suche, hinkt, denn die Digitalisierung ist keine Naturgewalt, sie ist „hausgemacht“. Dennoch sind die Fragen dieselben: Wie schutzlos sind wir der digitalen Welt ausgeliefert? Welche neuen Katastrophen birgt sie? Wie verhält sich eigentlich das „Netz“ als Nahrungsquelle? Welche Pflege braucht es? Wer zur Schule geht, wer arbeitet, wer sich in der Öffentlichkeit bewegt, betritt automatisch diesen neuen „Acker“.

Selber denken
Über Jahrtausende hinweg hat der Mensch gelernt, sich gegen Wind und Wetter zu schützen, Teile der Natur auszusperren und sie zugleich zu seinem Vorteil zu nutzen. Anpassung und Modifikation haben Wissenschaften hervorgerufen, Wissen hervorgebracht – Waffen wie Werkzeuge. Und eben: das hat gedauert.
Wenn ich noch ein Weilchen an diesem Vergleich festhalte, dann aus einem Grund: Mir will heute die digitale Welt ähnlich unberechenbar erscheinen wie die analoge Welt den Menschen vor vielleicht vierhundert Jahren. Der grosse Menschenkenner Shakespeare hatte die Frage nach dem Sein gerade ein letztes Mal gestellt und trat endgültig von der Bühne ab, vor der Tür stand der Dreissigjährige Krieg. Zwar war damals der Buchdruck längst erfunden und auch Kopernikus hatte unseren Planeten aus den Angeln gehoben, doch die Verbreitung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse fand im Jahr 1616 nur marginal statt; viel zu stark war noch der Glaube an Erdgeister und Meerjungfrauen, selbst die Alchemie steckte noch in den Kinderschuhen. Genau genommen hatten auch die wenigsten Menschen Zeit, sich wissenschaftlicher Forschung hinzugeben. Dass während dieses Krieges ein gewisser René Descartes sich seinen Meditationen hingab, um dem menschlichen Denken auf die Schliche zu kommen, weil er wenigstens zu einer unerschütterlichen Gewissheit vordringen wollte, mutet an wie ein Anachronismus. Denn, wie gesagt, fürs Denken blieb keine Zeit. – Wie heute?

Ein Gedankenexperiment
Für den Fall, dass ich mich täusche, schlage ich ein Gedankenexperiment vor: Verhält sich das „Netz“ womöglich so wie der Klerus und der Adel vor vierhundert Jahren? Oft anonym, versteht sich. Es gilt bei diesem Analogieversuch schon, die spezifischen Eigenschaften der digitalen Welt mit einzubeziehen, wenngleich da und dort noch Protagonisten sichtbar werden. Da will ein Immobilien-Tycoon mit Föhnfrisur der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden, und dort sorgt ein Islamischer Staat für Verheerungen … welcher Mittel bedienen sie sich? Was wissen wir über die spontane Bildung von Schwärmen auf den unterschiedlichen Plattformen der social media? – Und was macht eigentlich Google mit mir?
Nachdem Hannah Arendt 1961 den Eichmann-Prozess in Jerusalem verfolgt hatte, kam sie zum Schluss, das Böse sei nicht radikal, sondern banal. Wie es sich um die Banalität des Bösen verhält, ist zwar heute noch umstritten, digital geworden aber ist es auf jeden Fall. Und also auch das Gute. Das Netz ist ein gigantischer Wissensspeicher und ermöglicht weltumspannende Kontakte. Das ist grandios. Dasselbe Netz aber bietet sich auch an, um schnell und breit Ängste zu schüren, Hass zu erzeugen.

Wir, du und ich
Und was geht mich das an? – Bedauerlicherweise gibt es dazu kein Bühnenstück von Shakespeare. Vielleicht würde uns, die wir ahnungslos sind, eine solche Inszenierung die Augen öffnen. Der Trojaner überrascht mich im Schlaf, und wenn ich davor an einer Party über die Stränge schlug, dann finde ich mit dem Wiedererwachen unvorteilhafte Bilder von mir im Netz. Wer was in der digitalen Welt auslöst, veranstaltet beziehungsweise zu verantworten hat, ist oft nicht zu eruieren; in der Dynamik dieses Systems verwischen Ursache und Wirkung. Das macht die Unberechenbarkeit aus, meine ich, der wir heute alle ausgeliefert sind.
Wir können die digitale Welt weder aussperren noch kontrollieren. Wie auch? – Denn dieses Netz, das sind wir. Ein unfassbar grosses „Wir“, das sich jede Sekunde beobachtet, Applaus spendet, überwacht und bestraft, den einen auf ein Podest stellt, den andern an den Pranger.
Dieser Allgegenwärtigkeit („Digipulation“ und „Digipolution“) sollten du und ich künftig vielleicht ein wenig bewusster entgegentreten …

Markus Bundi, Deutsch- und Philosophielehrer