2019, Aktuelles, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 30, Traum, Wortwechsel

Traumhaft schön?

Wunschträume, Albträume – im Traum widerfährt uns allerlei Schönes und Belastendes. Wir alle träumen. Wir sprechen von zerplatzten Träumen, Traumreisen, Traumjobs, Traumfrauen oder Traumprinzen. Und wenn eine Altphilologin mit einem Chemiker ins Gespräch kommt, wirds richtig interessant.

Franziska Geering (GeeFr): Neulich träumte ich, dass ich mit Prinz Charles im Bus sitze und mich mit ihm auf Baseldeutsch unterhalte!

Markus Suter (SutMa): Muss ein Albtraum gewesen sein! Was wohl ein Traumdeuter da herauslesen würde? Allerdings will ich nicht recht glauben, dass Träume uns etwas mitteilen wollen.

GeeFr: Einen solchen Traum deuten zu wollen, fände ich auch eher absurd. Doch finde ich die Frage spannend, woher Träume überhaupt kommen und welche Folgen sie im Alltag haben können. Es ist wohl unbestritten, dass das Ich den Traum selbst «macht», dass infolgedessen auch nur das Ich den eigenen Traum deuten kann und dass etwaige Folgen bzw. die Umsetzung in konkrete Handlungen auch das Ich betreffen und von diesem ausgehen.

SutMa: Ganz bestimmt. Welche Mechanismen uns solch überraschende und mitunter ziemlich abstruse Geschichten zusammenreimen lassen, bleibt uns leider verborgen. Ich grüble aber auch den Ursprüngen eines Traumes nicht nach, sondern amüsiere mich einfach in meinen Träumen oftmals köstlich.

GeeFr: Ja, fast wie im Kino, nur selbst gemacht! In der Literatur aber sieht es anders aus. Da ist es der Autor, der seine Figuren träumen lässt; er liefert gegebenenfalls auch gleich die Deutung und kann den Traum so Einfluss auf die Handlung nehmen lassen. Als Beispiel fällt mir Homers Odyssee ein. Im Traum, den Homer Penelope träumen lässt, tut sich eine Gänseschar am Futter gütlich, bis ein Adler kommt und die Gänse tötet. Im selben Traum bekommt Penelope die Deutung von Odysseus: Die Gänse sind eine Metapher für die Freier, die Penelope bedrängen; der Adler steht für Odysseus, der Penelope von den Freiern erlöst. Penelope wird durch den eigenen Traum und seine Deutung die Möglichkeit vor Augen geführt, dass Odysseus tatsächlich heimkehren und seinen rechtmässigen Platz zurückerobern könnte. Penelopes Traum wird schliesslich vom heimgekehrten Odysseus in Worten und Taten bestätigt. Bei Homer wird der Unterschied zwischen wahren Träumen aus Horn und unwahren Träumen aus Elfenbein betont. Penelopes Traum ist offenbar ein Horntraum und hat somit an dieser Stelle eine prophezeiende Funktion.

SutMa: Einverstanden, aber eben, es handelt sich um Fiktion, eingesetzt als raffiniertes Erzählmittel, mit welchem der Autor seiner Handlung eine bestimmte Wendung oder auch eine surreale Note zu geben vermag. Wie dies zum Beispiel auch im Hitchcock-Klassiker Spellbound in der von Salvador Dalí kreierten Traumszene – in Schwarzweiss – eindrücklich umgesetzt wird. Ich vermute, dass die Frage, ob Träume farbig oder bloss schwarzweiss erlebt würden, erst aufkam, als der Film erfunden wurde – ein Medium, welches ursprünglich aus technischen Gründen die Bildinformation auf Graustufen abstrahierte.

GeeFr: Als Kind träumte ich oft vom Krieg. Ein rot scheinendes Flammenmeer kontrastierte das Schwarz des Nachthimmels. Alles als Zerrbilder, nur Eindrücke, keine eigentliche Handlung – ein angsteinflössendes Farbenspiel in Rotschwarz. Offensichtlich können Träume in derselben Form oder leicht abgewandelt immer wiederkehren. Heute träume ich immer wieder vom Fliegen – wie Ikarus, so richtig! Nur ohne Absturz… Nicht nur ein Eindruck, sondern das Ablaufen einer konkreten Handlung. Und definitiv schöner als der Traum in der Kindheit.

SutMa: Da bist du fortgeschrittener als ich. Ich kann mich nur von Wänden abstossen und horizontal gleiten, wenige Zentimeter über dem Boden…

GeeFr: Da ich den Traum vom Fliegen besonders mag, frage ich mich, ob es möglich ist, einen Traum vor dem Einschlafen zu «bestellen», also von etwas träumen zu wollen, von dem man dann auch träumt. Oder einen schönen Traum, aus dem man aufwacht, einfach weiter zu träumen…

SutMa: Anscheinend ist das möglich. Es gibt Anleitungen und vermutlich sogar Kurse dazu. «Heute Nacht die Fortsetzung vom spannenden Traum von gestern. Was bisher geschah…». Es gibt zu solchen Experimenten allerdings auch warnende Stimmen.

GeeFr: Vielleicht, weil die Grenzen zwischen Realität und Traum nicht mehr deutlich erfahren werden?

SutMa: Dass aus dem Traumhaften ein Im-Traum-verhaftet-Sein wird? Dass sich Wirklichkeit und Traum oftmals sehr nahe sind, erleben wir alle. So frage ich mich manchmal, ob ich eine bestimmte – realistische und meist banale – Situation wirklich erlebt oder nur davon geträumt habe. Oder dass mich nach einem schönen Traum den ganzen Tag ein gewisses Glücksgefühl begleitet, obwohl ich mir der Unwirklichkeit des Traumes absolut bewusst bin.

GeeFr: Wenn ich nun aber träume, dass jemand gestorben ist, beschleicht mich nach dem Aufwachen ein mulmiges Gefühl. Ich bin froh, wenn mir bestätigt wird, dass dieser Traum nicht wahr ist. Doch in der Nacht vor meiner mündlichen Lizentiatsprüfung hatte ich geträumt, dass ich über ein bestimmtes Gedicht von Sappho geprüft werde. Natürlich schaute ich dieses Gedicht nochmals gründlich durch. An der Prüfung war es kein Thema. Offensichtlich ein Elfenbeintraum… Ich war etwas enttäuscht, hätte ich es doch spannend gefunden, wenn so etwas möglich gewesen wäre… Vielleicht ist es ja möglich?

SutMa: Schön wärs! Hin und wieder unterhalte ich mich im Traum in fliessendem Französisch, wozu ich im richtigen Leben (leider!) nicht fähig bin. Ich frage mich, ob es im wachen Zustand – anders als im Traum – hemmende Mechanismen gibt, welche, um Fehler zu vermeiden, unser Reden und Handeln permanent überprüfen und das Sprechen der Fremdsprache durch eine Überreaktion sogar behindern.

GeeFr: Daher vielleicht die Redewendung «Man muss etwas im Schlaf können.»? Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, ob denn der natürliche Zensor, der uns im Wachzustand vor Unüberlegtem schützt, im Traum ganz wegfällt oder zumindest eingeschränkt agiert.

SutMa: In meiner Jugend träumte ich oftmals, dass ich mit Rauchen angefangen hatte, und mich drückte im Traum das schlechte Gewissen, weil ich nicht standhaft gewesen war. Also – so vermute ich – ist der Zensor, wie du ihn nennst, auch im Schlaf wach, kann aber von uns Träumenden übersteuert werden. Abgesehen davon lässt der Zensor ja auch zu, dass uns im Traum Dinge gelingen, deren Unmöglichkeit wir uns im Wachzustand durchaus bewusst sind. So träumen wir eben, dass wir fliegen oder lange unter Wasser bleiben können (obwohl ich dann jeweils echte Atemnot kriege, weil ich vermutlich tatsächlich den Atem anhalte).

GeeFr: Hmmm – vielleicht sind Träume weder aus Horn noch aus Elfenbein…

SutMa: …sondern eben doch nur Schäume.

Von Franziska Geering und Markus Suter