2023, Aktuelles, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 36, Zeit

Über die (Un-)Fassbarkeit der Zeit

Wer die Zeit nicht hat, muss sie sich nehmen. Genau das haben ein Mathematiker und ein Anglist der Alten Kanti getan. Und sich unterhalten über eines der ganz grossen Themen: die Zeit. Ihr Wortwechsel beweist: Langweilig geworden ist ihnen dabei nicht.

Von Martin Eisenmann, Mathematiklehrer, und Urs Jeger, Englischlehrer

Urs Jeger (J): Was ist Zeit? Das ist eine grosse Frage. Es war schon immer eine grosse Frage, für die sich Philosophen, Physiker usw. interessiert haben. Wenn ich mir überlege, was Zeit ist, komme ich zum Schluss, dass es etwas völlig Unfassbares ist. Wir können Zeit nicht mit unseren Sinnen erfassen. Wir nehmen lediglich wahr, dass sich das Geschehen um uns verändert. Diese Veränderung ist das ‘Zeitgeschehen’, welches wir beschreiben. Die Zeit fliesst von A nach B, sie ist also eine Art Zeitpfeil.

Martin Eisenmann (E): Richtig, in der Wissenschaft stellt man Zeit oft als Pfeil, als Achse dar. Man beschreibt zum Beispiel die zeitliche Veränderung der Positionen oder der Geschwindigkeiten von Objekten auf diese Weise.

J: Newton behauptete, dass es überall im Universum eine Zeit gibt, die gleich verläuft. Seit Einstein wissen wir, dass dies nicht der Fall ist: Abhängig von der Geschwindigkeit eines Objekts vergeht dessen Zeit für einen Beobachter anders.

E: Wenn wir an grössere Geschwindigkeiten in unserem Alltag denken, kommen mir Piloten in den Sinn. Piloten bewegen sich über einen langen Zeitraum mit grosser Geschwindigkeit. Durch die Effekte, die Einstein beschrieben hat, ‘gewinnen’ Piloten über ein gesamtes Leben aber nicht mehr als ein paar Minuten Zeit. Diese ‘unterschiedlichen’ Zeiten haben also auf unser tägliches Leben keinen wesentlichen Einfluss.

Obwohl, physikalisch gesehen, unsere Uhren alle gleich schnell gehen, haben wir doch eine ganz andere Wahrnehmung. Je nach Tätigkeit kann die Zeit rasen oder beinahe stehenbleiben.

J: Hier kommt das psychologische Moment der Zeit ins Spiel. Unsere Wahrnehmung einer Zeitspanne ist sehr subjektiv. Beim Warten auf den Bus verstreichen die Minuten sehr langsam, macht man etwas Aufregendes, kann die Zeit wie im Flug vergehen.

E: Bei den besten Unterrichtsstunden sagen die Lernenden am Schluss: «Was?! Jetzt hat es schon geläutet?» Das kommt manchmal tatsächlich vor.

J (lacht): Bei mir im Englisch ist das immer der Fall.

E: Mit fortschreitendem Alter nehme ich einen bestimmten Aspekt der Zeit immer mehr wahr: Zeit ist etwas sehr Kostbares. Viele von uns haben alles, was sie brauchen. Nur Zeit hat man selten genug. Es gibt in unserer Welt derart viele interessante Dinge zu entdecken, Aktivitäten auszuprobieren, aber Zeit dafür hat man keine. Unsere Tage sind verplant, die Wochenenden ausgebucht. Sich für etwas Zeit zu nehmen, hat deshalb einen gewissen Stellenwert.

J: Einverstanden.

E: Darum ist Zeit auch ein schönes Geschenk. Einen gemeinsamen Ausflug machen, für andere Zeit investieren. Das sind für mich tolle Geschenke.

J: In unserer materiell geprägten Gesellschaft ist es wichtig, dass wir wieder genau darauf zurückkommen: sich Zeit nehmen. Für Jemanden, für Dinge. Häufig geht das unter. Oft sind wir zu sehr fixiert auf Materielles oder Erfolg.

Ich finde die Idee der Langeweile sehr wertvoll. Wenn mir jemand sagt: «Mir ist langweilig», entgegne ich: «Dir kann nichts Besseres passieren.» Denn in der Langeweile hat man lange Zeit, etwas zu entwickeln. Häufig wird der Geist in der Langeweile kreativ.

E: Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, verbinde ich mit Langeweile nichts Positives. Jetzt hingegen empfinde ich es als sehr angenehm, zum Beispiel in den Ferien einfach mal nichts zu tun zu haben.

J: Wenn ich meine Kinder in ihrer Langeweile mal nicht bespasst habe, weil ich keine Zeit hatte, wurden sie tatsächlich oft kreativ. Ich finde es sehr schade, dass Langeweile oft nur negativ konnotiert ist.

E: Aber im Moment, indem man eine Aktivität beginnt, ist die Langeweile ja eigentlich vorbei. Also bringt dich die Langeweile dazu, dich mit etwas zu beschäftigen.

J: Auf jeden Fall. Und dann merkst du vielleicht auch, dass die Langeweile gar nicht so lange dauert, dass sie gar keine so lange Weile ist.