Vom anderen Sehen und Hören dank neuer Medien
Um 1600 fand in der abendländischen Musikgeschichte eine der grössten Revolutionen statt: Der Sinn stand ganz nach musikalischer Dramatik. Textaussagen sollten musikalisch unmittelbar wirken. Prima le parole e poi la musica – zuerst das Wort, dann die Musik! Dem strengen Regelwerk komplexer mehrstimmiger Kompositionstechniken des Hochmittelalters bis ins späte 16. Jahrhundert wird eine radikal neue gegenübergestellt: Die Monodie. Diese Art von Sprechgesang über Stützakkorden in den nun vorherrschenden Tonsystemen Dur und Moll wird zum Beispiel das strukturelle Herz für die ersten Opern.
Kompositionspraxis
Unterschiedliche textbedingte Stimmungen, sogenannte Affekte, erhalten eine angemessene musikalische Umsetzung. Schnelle Affektwechsel führen zu filmschnittartiger, nie zuvor dagewesener musikalischer Dramatik. Der italienische Komponist Claudio Monteverdi prägte diese Revolution massgeblich mit. Obwohl öffentlich angefeindet vom konservativen Lager, hat er nicht einfach in polemischer Weise althergebrachte Konventionen herabgewürdigt. Im Gegenteil, er zollte diesen in einem ausführlichen Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch mit dem Begriff prima pratica (also die „zuerst dagewesene Praxis“) Anerkennung, ja erklärte sie sogar zur Grundlage allen kompositorischen Schaffens. Seine eigenen Errungenschaften nannte er seconda pratica. Also nicht alt und neu, nicht konservativ und modern: einfach prima und seconda pratica (und nicht etwa teoria!). Monteverdi entwickelte seine musikalische Revolution aufgrund genauer Kenntnis und Beherrschung überlieferter Traditionen.
In seiner 1610 veröffentlichten Marienvesper hinterliess er diese beiden Techniken, ja musikalischen Weltanschauungen, sowohl in unmittelbarem Wechsel wie auch als Synthese in wahrer Meisterschaft. Mit diesem Werk in den Bewerbungsunterlagen hat er den Job als Kapellmeister am Markusdom in Venedig gekriegt.
Musik ist eine Kunstform, die aus Konventionen besteht – zumindest, was die überwiegende Mehrheit des Hörkanons vom Nummer-eins-Hit der Popcharts über Volksmusik und Traditionals bis hin zur Symphonie, zur Klaviersonate oder zum Chorsatz anbelangt. Alle grundlegenden Aspekte wie Rhythmik, Melodik und Harmonik gehen auf die oben geschilderte musikalische Revolution um 1600 zurück. Wie soll ich nun als Schulmusiker im Klassenunterricht zeitgemäss diese Konventionen vermitteln? Die grundlegenden Strukturen wie Notenschrift, Tonleitern, Intervalle, Dreiklänge, Kadenzen etc. gehören grundsätzlich eher nicht zu den beliebtesten Unterrichtsinhalten bei meinen Schülerinnen und Schülern. Aber bei ernsthafter Auseinandersetzung mit Musik (hörend, singend und spielend) kommt man um diese Aspekte nicht herum. Ohne Kenntnis von Buchstaben keine Wörter, ohne Grammatik keine Sätze. Training heisst das Zauberwort. Übung klingt weniger sexy, meint aber dasselbe.
Unterrichtspraxis
Auf das Stichwort „note trainer“ listet der AppStore Dutzende von Apps auf, von der klassischen Ansicht bis zur Notenlesehilfe, die quasi zum Noten-Ballerspiel aufgemotzt ist. Spiel, Spass und Spannung garantiert. Ich persönlich stehe auf die einfachste Variante: Ein Stück Papier mit vielen Notenköpfen. Sich das Schriftbild aneignen. Absolut Bass- und Violinschlüssel lesen und Töne benennen, ohne auf den Linien abzuzählen. Mein Medium dafür ist der Neo-Hellraumprojektor – neudeutsch auch Visualizer sowie die Online-Stoppuhr mit Countdown-Funktion.
Ein Klassiker in meinem Unterricht von Beginn des Grundlagenfachs an bis zur Maturaprüfung im Schwerpunktfach sind klassische Handouts mit Haupttext und Randbemerkungen. Im PDF-Format, versehen mit vielen Links, können die Schülerinnen und Schüler im Text beschriebenen Aspekte an- resp. nachhören. Die einfachste und mit WLan immer abrufbare Quelle dafür heisst YouTube. Diese selber verfassten PDFs für den Unterricht sind entweder online auf www.schulmusikaarau.ch abrufbar oder werden von mir via schulNetz verschickt (… ich liebe schulNetz, insb. wenn ich krank zu Hause im Bett liege und nicht unterrichten kann, die Schülerinnen und Schüler aber dennoch nach Unterrichtsstoff dürsten).
In der Musikstunde selber liegen die Handouts immer in Papierform vor allen Anwesenden. Mit Freude beobachte ich die verschiedenen Farbkonzepte, mit welchen Schülerinnen und Schüler das Papier umgestalten und individualisieren. Im Vergleich zu dieser Markier-Kompetenz wirkt jede noch so elegante Wischbewegung auf einem Touchscreen geradezu lächerlich …
Von Ohren, Meistern und Wolken
Im Bereich Gehörbildung intensiviere ich in den 1. und 2. Klassen gerade die Arbeit mit der Software Earmaster. Mit der Cloud-Variante können alle Schülerinnen und Schüler ihre individuellen Übungseinstellungen in unterschiedlichen Bereichen (momentan Skalen und Intervalle) selber vornehmen. Als Administrator kann ich auch Übungssettings vorgeben und Prüfungen online durchführen. Als „big brother“ sehe ich über die Lizenzverwaltung auf die Minute genau, wer wann zuletzt in der Earmaster-Cloud eingeloggt war. Irgendwie befremdet mich das, bin ich doch sechs Jahre vor 1984 geboren. In der Grundtendenz unterrichte ich eher lehrerzentriert. Earmaster ermöglicht mir auf einfach Weise die Gestaltung von Unterrichtsphasen, in denen angemessen der Umgang mit „heterogenen Gruppen“ (Lehrplansprache) berücksichtigt wird.
Meistens langweile ich mich enorm in diesen Phasen und bin froh, wenn mich die Häufung kleiner Alltagshürden (von „mein Passwort für die Cloud funktioniert nicht!“ bis zu „was bedeutet Proxy Error?“ oder ganz simpel „ich habe meinen Laptop vergessen“) zwingen, mich ans Klavier zu setzen, Intervalle live zu spielen, die ganze Kursgruppe mitsingen zu lassen und unterschiedliche Verschmelzungsgrade von Klängen im direkten Vergleich hervorzuheben. Alles mit einem echten akustischen und nicht synthetischen Klavierklang – und ab und an auch mit einem Fehlgriff auf den Tasten meinerseits. The Human Stain …
Handwerk bis MP3
Notationsprogramme sind beim legalen Erwerb eher kostenintensiv. Wir haben an der Alten Kanti ein hervorragend ausgerüstetes und betreutes Soundlab, in dessen Geheimnisse die Schülerinnen und Schüler des Schwerpunktfachs Musik standardmässig eingeweiht werden. Für grössere Gruppen ist die Anzahl der Arbeitsstationen etwas knapp. Zum Glück gibt es die Freifächer …
Im Grundlagenfachunterricht kommt allerdings nach wie vor die gute alte handschriftliche Variante zum Zuge – mit Notenpapier und Bleistift. Während man beim Notationsprogramm direkt hörend überprüfen kann, was man gerade eingetippt hat, muss ich bei der handschriftlichen Variante als Lehrperson einspringen und Resultate am Flügel vorspielen. Oder wir singen diese in der Kursgruppe. Beim Handschreiben darf man als Schülerin und Schüler immerhin selber die Frage beantworten, ob der Notenhals auf- oder abwärts zeigen muss. Selbst wenn eine Frage dieser Art nicht intrinsisch motiviert sein sollte.
Im Schwerpunkt- und Ergänzungsfach Musik finden Prüfungen mit Werkbetrachtungen, Analyseaufgaben oder Gehörbildung regelmässig mit MP3-Playern statt. So kann jede Schülerin ihr Tempo sowie die Abfolge der Aufgaben selber bestimmten und jeder Schüler die Übung so oft anhören, wie er es zur Lösung der Aufgabe benötigt. Ab zwei spontan entladener Akkus oder Geräten die einfach „hängen bleiben“, habe ich bei der Prüfungsaufsicht einen erhöhten Puls.
Die neuste Errungenschaft der Mediathek der AKSA, nanoo.tv als Speicher- und Streaming-Plattform, nutze ich momentan zur Aufzeichnung von Sendungen zu meiner eigenen Weiterbildung und für das Abspielen ausgewählter Videosequenzen im Unterricht. Die Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern mittels freigeschalteter Links zu Film- und Audiobeiträgen individuelle Seh- und Höraufträge zu erteilen, wird im nächsten Quartal erprobt.
Selber machen, sehen und hören
Das nicht wirklich überraschende Fazit nach 6903 Zeichen: Das eine tun, das andere nicht lassen. Aber ohne Kreide und Wandtafel wäre mein Dasein im Zimmer 30 öde. Abgesehen vom Gestalten und Füllen ist die eigenhändige Reinigung der Tafel nach einer Lektion äusserst meditativ. Vanitas zum Anfassen, in Gestalt von Kreide und Lappen – anstelle eines virtuellen Tickets an den (superschnellen und zuverlässigen) AKSA-Systemsupport bei fehlender Bildübertragung oder einem Brummen auf den Lautsprecherboxen. Die Wahl des korrekten Lappens für die Nassreinigung (grün, grau oder rot?) fordert mich zusätzlich heraus. Der daraus resultierende feuchte Händedruck wird zum sinnlichen Erlebnis im 45-Minuten-Takt.
Übrigens sollten Sie bei Gelegenheit in Monteverdis Marienvesper reinhören respektive -schauen. Siehe YouTube. Mein persönlicher Favorit sind Interpretationen von John Eliot Gardiner. Es gibt eine prima Aufnahme aus dem Jahr 1989 in Venedig und eine zweite Version aus dem Jahr 2014 in Versailles. Die Frisuren sind unterschiedlich, ebenso der Kleidungsstil und die Art der filmischen Inszenierung. Die Musik Monteverdis bleibt zeitlos gut. Und falls Sie es nicht so sehr mit dem Geistlichen, dafür mehr mit dem Weltlichen haben, dann können Sie sich getrost auch L’Orfeo – Favola in musica reinziehen. Dort überwiegt die seconda pratica …
Michael Schraner, Musiklehrer