Bei einem Kaffee und einem Chai im Barista Shop haben sich der Biologie Stefan Girod (SG) und der Pianist Daniel Woodtli (DW) über einen der ganz grossen Begriffe unterhalten. Im Dialog unternehmen die beiden Lehrer der Alten Kanti Aarau einen ebenso unterhaltenden wie anregenden Gedankenspaziergang – immer im Spannungsfeld zwischen der Macht der Fakten und der Macht des Göttlichen.
SG: Daniel, du bist Pianist und unterrichtest Klavier. Warst du ein Wunderkind?
DW: Um Himmelswillen, nein! Ich habe mit zehn Jahren relativ spät mit Klavierspielen begonnen, und bei mir war der Arbeits-Anteil immer bedeutend grösser als der Begabungs-Anteil. Der Erfolg kommt mit dem unermüdlichen Üben! Wunderkinder sind sehr dünn gesät.
SG: Hast du schon mal eines unterrichtet?
DW: Nein. Ich hatte einige begabte Schülerinnen und Schüler, aber ein Wunderkind war nie darunter.
SG: Als Laienmusiker ist mir klar, dass musikalische Perfektion mit extrem intensivem Üben verbunden ist; trotzdem gibt es Menschen, die beherrschen ein Instrument in kürzester Zeit perfekt. Ein Wunder?
DW: Kennst du Dimitris Sgouros?
SG: Nie gehört.
DW: Er ist ein griechischer Pianist, galt als Wunderkind und spielte bereits mit 12 Jahren Rachmaninovs 3. Klavierkonzert in der Carnegie Hall. Heute spricht kaum noch jemand von ihm, obwohl er immer noch Konzerte gibt. – Moment. Ich google mal. – Genau: «…begann mit sechs Jahren Klavier zu spielen und gab im Alter von sieben Jahren sein erstes Konzert. Mit zwölf Jahren absolvierte er ein Studium am Athener Konservatorium für Musik mit Abschlüssen als Pianist und als Klavierlehrer.» Sagt Wikipedia.
SG: Aha. Als Kind ein Wunder, als Erwachsener Durchschnitt.
DW: In diesem Fall ganz sicher. Allerdings gibt es tatsächlich Wunderkinder, die auch noch als Erwachsene Präsenz auf den Bühnen, in den Medien und in den Köpfen der Leute zeigen.
SG: An wen denkst du?
DW: Unter den Pianisten denke ich da beispielsweise an den Italiener Maurizio Pollini: Er war schon als Neunjähriger international bekannt und ist auch heute noch ein vielbeachteter Musiker. Voriges Jahr erhielt er immerhin den «Echo Klassik» als Instrumentalist des Jahres.
SG: Aber woran liegt es, dass das Wunder in einigen Fällen anhält, in anderen nicht?
DW: Schwierig zu sagen. Jedenfalls zeigt sich, dass in vielen Fällen gilt: Ist das Kind vorbei, ist auch das Wunder vorbei.
SG: Haben Wunder an sich aber nicht zwingend etwas ewig Währendes?
DW: Echte Wunder vielleicht schon. Aber was sind schon echte Wunder?
SG: Das fragst du mich? – Als Naturwissenschafter neige ich grundsätzlich dazu, Wunder in Frage zu stellen. Vielleicht gehört es auch zum guten Ton, sich als Naturwissenschafter nicht allzu oft zu wundern. Schliesslich soll ja alles mit harten Fakten erklärt werden können.
DW: Nicht alles lässt sich aber mit naturwissenschaftlichen Tatsachen erklären.
SG: Das stimmt, trotzdem sollte das sogenannte Wunder nicht allzu schnell zur Hand sein, wenn wir etwas nicht sofort logisch erklären können. In vielen Fällen sind diese Wunder ganz einfach Ereignisse, deren Eintretenswahrscheinlichkeit sehr klein ist – sozusagen statistische Ausreisser in einem gewaltigen Datenmeer. Ja, ich zweifle tatsächlich vieles an, was landläufig als Wunder bezeichnet wird.
DW: Vieles, aber nicht alles?
SG: Etwas, das für mich nicht mit rationalen Fakten erklärbar ist, ist die Entstehung des Lebens. Nicht das Leben an sich – obwohl dieses auch wundersam ist –, sondern die Tatsache, dass irgendwann aus unbelebter Materie ein Organismus entstanden ist, der sich fortan selber erhält und vermehrt.
DW: Für dieses Ereignis standen immerhin Jahrmilliarden zur Verfügung – da steigt die Eintretenswahrscheinlickeit für das Unglaubliche.
SG: Vielleicht. Aber es ist doch ein Wunder, dass sich Materie, auch wenn sehr viel Zeit dafür gebraucht wurde, sozusagen selber zu organisieren begann und damit Leben schuf, das sich immer weiterentwickelt – ich meine, das widerspricht jeglicher naturwissenschaftlicher Logik. Noch kein Experiment konnte zeigen, dass Leben spontan aus Unbelebtem entstehen kann.
DW: Das Leben als Werk eines Schöpfers?
SG: Eine höhere Macht beiziehen, wo wir rational nicht mehr weiterkommen? – Warum nicht. Früher wurden Wunder als Erklärung für das Unerklärliche beigezogen. Und der Ursprung der Wunder war das Göttliche. Nach und nach hat das naturwissenschaftliche Denken und Forschen das göttliche Wunder verdrängt, viele Mythen sind entzaubert worden. Das mag sein Gutes haben, denn dem Menschen wurde so die Angst vor dem Unerklärlichen genommen, aber letztlich sind wieder neue Fragen entstanden, die zu beantworten uns genauso unmöglich sind. Und so bleibt wahrscheinlich das Leben und seine Entstehung immer etwas Wunderbares.
DW: Wahrscheinlich gehört es zum Leben, nicht alles mit unserer Vernunft erklären zu können. Was macht es beispielsweise aus, dass einzelne Kompositionen andere richtiggehend überstrahlen? Ich weiss es nicht. Da gibt es Musiker, deren Musik zeitlos ist, über Jahrhunderte begeistert, die meisten Komponisten aber sind während der Geschichte in Vergessenheit geraten. Was unterscheidet das Genie vom Durchschnitt?
SG: Vielleicht auch hier wieder: Geniale Musiker sind statistische Ausreisser, die in ihren Genen alles vereinen, was erfolgreiches Komponieren ausmacht!
DW: Aber was sind diese Eigenschaften? Was ist das Spezielle an diesen Komponisten und an ihrer Musik? Was ist diese unerklärliche Essenz, die nicht nur in der klassischen Musik zu finden ist? Was macht beispielsweise die Musik der Beatles so zeitlos interessant?
SG: Haben sie vielleicht einfach den Geist der Zeit erkannt, sind daher bekannt und dann über die Jahre berühmt geworden?
DW: Das denke ich nicht. Nicht alle heute noch bekannten und beliebten Musiker und Komponisten konnten sich zu Lebzeiten einen Namen machen.
SG: Welche Komponisten ragen für dich wundersam heraus?
DW: Schubert, Mozart, da ist ein unglaublicher Melodienreichtum vorhanden. Salieri hat auch gut komponiert, aber seine Musik hat nie die Intensität von Mozart. – Und das Wunderliche ist ja, dass alle Komponisten mit dem gleichen Material arbeiten: Mit Luftschwingungen unterschiedlicher Frequenzen, mit denen Klänge und Harmonien erzeugt werden. Letztlich bleibt es aber unerklärt, was das zeitlos Brillante bei einem Wunderkind wie Mozart ausmacht.
SG: Aus gleichen Bausteinen gebaut, und trotzdem ganz anders – so sind wir wieder beim Leben: Was hat ein Mensch, was einer Maschine fehlt? Beide sind ja doch aus denselben Atomen gebaut! Was macht einen Organismus lebendig? Obwohl nach dem Ableben eines Lebewesens unter Umständen alle Strukturen bis auf das kleinste Molekül noch vorhanden sind, lebt es nicht mehr! Was also macht letztlich das Wunder Leben aus? Was beseelt einen Körper?
DW: Und was beseelt die Musik? Diesen Frühling gab die Pianistin Khatia Buniatishvili in Aarau ein Konzert. Dabei gelang es ihr auf wundersame Weise, der Musik eine Seele zu verleihen, eine Spannung zu erzeugen, die das Publikum spürbar in den Bann ihrer Interpretation zog. Eine zauberhafte Stimmung kam auf, wie ich sie noch selten erlebt habe – aber physikalisch gesehen waren es doch einfach nur Luftschwingungen! Irgend etwas Berührendes war jedoch mit dabei, man kann es mit Worten nicht ausdrücken – ein Wunder eben.
Von Stephan Girod und Daniel Woodtli